Die lange versprochene Abschaffung der kalten Progression könnte sehr teuer kommen. Ökonomen warnen: Laut Entwurf liegt die geplante Kompensation deutlich über den Einnahmen.
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Am Freitag endet die Begutachtung für das "Teuerungs-Entlastungspaket Teil II". In diese Buchstaben kleidet sich die von der Regierung angekündigte Abschaffung der kalten Progression. Sie soll ab 2023 wirken und die stille Steuererhöhung unterbinden. Obwohl seit Jahren heftig diskutiert, sind bisher noch nicht viele Stellungnahmen eingelangt, lediglich vier. Die niederösterreichische Landesregierung teilt zudem nur mit, "keine Einwendungen" zu haben, und der Dachverband der Sozialversicherungen hat zu monieren, dass an einer Stelle der §33a mit dem §33 verwechselt wurde. Vielleicht wäre ein genaueres Studium des Entwurfs aber sinnvoll. Denn laut einer Berechnung zweier Ökonomen droht ein Budgetloch.
Bereits Ende Juni hat der Fiskalrat vor den budgetären Auswirkungen gewarnt. Den Entlastungen stünde keine ausreichende Gegenfinanzierung gegenüber, die budgetären Spielräume würden eingeschränkt, äußerten die Budgetwächter damals. Der konkrete Entwurf lag bei dieser Vorwarnung noch nicht vor.
Eine Berechnung der Ökonomen Peter Brandner und Josef Baumgartner in einem Fachartikel, erschienen in der "Steuer- und WirtschaftsKartei" (SWK) zeigt nun, dass dieses Paket bis 2026 rund 18,4 Milliarden Euro an Entfall der Lohnsteuer bedeuten würde, obwohl die reine kalte Progression in diesem Zeitraum nur etwa 5,6 Milliarden Euro ausmachen würde. Der Effekt der kalten Progression werde mit dem Modell der türkis-grünen Bundesregierung, einem "Tarif auf Rädern", überkompensiert, sagt Brandner, der auch als Fachexperte für empirische Wirtschafts- und Finanzmarktforschung im Finanzministerium tätig ist.
Der Ökonom spricht von einer "systematischen Überkompensation" durch das Modell in dem Entwurf. Der Finanzminister nimmt durch die kalte Progression gar nicht so viel ein, wie er wieder zurückgibt. Im Sinn einer Entlastung aufgrund der Teuerung kann das natürlich politisch gewollt sein, es wäre aber keine Abschaffung der kalten Progression, sondern ginge darüber hinaus.
Wobei Brandner ergänzt, dass eine echte Abschaffung ohnehin gar nicht möglich sei. Solange es Inflation, Gehaltserhöhungen und mehrere Steuertarifstufen gibt, wird es immer eine kalte Progression geben. Man kann diese stille Steuererhöhung aber abgelten. Die Bundesregierung rechnet dabei mit einer Kompensation, auf vier Jahre verteilt, von insgesamt rund 20 Milliarden Euro. Das sind die 18,4 Milliarden von der Lohnsteuer, der Rest käme von der Einkommenssteuer. Die 20 Milliarden Euro werden in den Beilagen zum Gesetzesentwurf genannt, beginnend mit 1,85 Milliarden Euro Entlastungsvolumen im kommenden Jahr und dann ansteigend bis auf 7,81 Milliarden Euro 2026. Das ist der Betrag, den der Finanzminister weniger lukriert, wenn man die Tarifstufen mit den Inflationsraten koppelt.
Modell bildet hypothetische Steuereinnahmen ab
In dem Fachartikel heißt es dazu aber: "Die Berechnung beantwortet nicht die Frage nach dem budgetrelevanten gesamtwirtschaftlichen Ausmaß der kalten Progression, sondern die etwas andere Frage nach den hypothetischen Steuereinnahmen, wenn alle Steuerpflichtigen eine Einkommenserhöhung im Ausmaß der Inflationsrate bekommen hätten."
Mit der Realität habe das aber wenig zu tun, so Brandner. Nicht alle Einkommen werden in den nächsten Jahren mit der Inflation angepasst - aus verschiedenen Gründen: Ältere Arbeitskräfte gehen in Pension, junge rücken nach, andere wechseln in Teilzeit, steigen beruflich auf oder ab, werden arbeitslos oder gehen in Karenz. Wessen Einkommen konstant bleibt oder gar sinkt, zum Beispiel aufgrund einer kurzen Arbeitslosigkeit, ist zwar von Inflation und damit einem Kaufkraftverlust betroffen, der Finanzminister profitiert aber nicht. Er erhält weniger Lohnsteuer.
Brandner unterscheidet auch zwischen der kalten (inflationsbedingten) Progression und der realen, wenn der Lohn von Beschäftigten über der Inflationsrate steigt. Auch dafür gibt es unterschiedliche Gründe: besonders gute Gehaltsabschlüsse, mehr Überstunden, ein beruflicher Aufstieg. In diesen Fällen erhöhen sich die Abgaben zwar ebenfalls, doch das ist in einem progressiven Steuersystem gewollt.
Effekt der kalten Progression wird überschätzt
Die Zahl der Erwerbstätigen ist für das Lohnsteueraufkommen auch bedeutsam. Im Zeitraum von 2016 bis 2019 hat der Staat 3,8 Milliarden Euro mehr an Lohnsteuer eingenommen, aber nicht nur wegen der Progression. 2019 waren nämlich um 140.000 Personen mehr erwerbstätig als vier Jahre davor. Auch Beschäftigungswachstum lässt die Einnahmen des Staates steigen.
Der Effekt der kalten Progression werde laut Brandner überschätzt. Allerdings sei an dieser Stelle erwähnt, dass es unter Ökonomen auch unterschiedliche Definitionen gibt. Und es ist letztlich auch eine politische Frage, wen und was man kompensieren will. "So oder so gibt es Ungerechtigkeiten", sagt Brandner. Beim "Tarif auf Rädern" profitieren auch jene von der Erhöhung der Tarifstufen, deren Einkommen und damit auch Steuerleistung nicht steigen. Teilt man nur die tatsächlichen budgetären Mehreinnahmen durch die kalte Progression auf, bedeutet das eine nur mehr teilweise Kompensation für jene, die durch die kalte Progression an Kaufkraft verlieren. Brandner plädiert für Zweiteres: Was die Gruppe der Steuerzahler mehr an Abgaben leistet, solle zur Gänze zurückfließen, aber nicht mehr. "Das ist gerecht im Sinne der Gemeinschaft der Steuerzahler."
Der Ökonom Simon Loretz vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) bestätigt die systemische Überkompensation, auch wenn er das sich im Fachartikel ergebende Delta zwischen Kompensationen (20 Milliarden) und theoretischen Mehreinnahmen durch die kalte Progression (5,6 Milliarden) als zu hoch sieht. Auch Loretz sagt, dass der Plan der Regierung nicht nur eine Abgeltung von inflationsbedingten Mehreinnahmen, sondern auch eine Steuerentlastung darstellt - und zwar ohne Gegenfinanzierung. "Das war immer klar", sagt der Wifo-Forscher.
Die Teuerung lässt zwar auch andere Steuerquellen sprudeln, etwa die Umsatzsteuer, "aber die werden es nicht vollständig kompensieren". Zudem steige in Zeiten hoher Inflation generell der Ausgabendruck. Wenn alles teurer wird, trifft das auch den Staat. "Der Elefant im Raum sind aber die Pensionen", sagt Loretz. Sie dürften heuer kräftig steigen.
Das Wifo wird gemeinsam mit dem IHS jedes Jahr ein Gutachten für die Regierung zur Abgeltung der kalten Progression erstellen. Dabei wird zunächst die Inflation (Juli bis Juni) herangezogen und anschließend jenes Drittel herausgerechnet, das sich die Regierung als Spielraum behalten wollte. Aber auch dieses Gutachten wird nur eine Annäherung sein.
Ein Aspekt der Abgeltung der kalten Progression ist auch die Verteilungswirkung. "Die Entlastung ist extrem breit", sagt Loretz. Nur die allerletzte Tarifstufe, die aber lediglich rund 500 Spitzenverdiener betrifft, wird nicht angepasst. Die Verteilungsfrage könne aber auch unterschiedlich interpretiert werden, sagt Loretz. In absoluten Zahlen profitieren Gutverdiener deutlich mehr, in Relation zur Steuerlast sind jene die Gewinner, die ohne Anhebung der Tarifstufe über den Steuerfreibetrag drüber kämen. Ihre Steuer wäre zwar auch dann nur gering, aber davor war sie eben null.
Kalte Progression~ Die kalte Progression ist ein Effekt, der durch das Zusammenwirken eines progressiven Steuertarifs, der Inflation und Gehaltserhöhungen entsteht. Jeder, der Lohn- oder Einkommenssteuer leistet, ist davon betroffen. Gehälter werden jedes Jahr angehoben, um (auch) die Teuerung zu kompensieren, die einzelnen Tarifstufen blieben unverändert.
Wenn die Einkommen steigen, die Tarifstufen aber fix sind, erhöht sich die Steuerleistung, auch wenn das Lohnplus nur die Inflation ausgleicht. In dem Fall bleibt brutto die Kaufkraft erhalten, netto nicht.
Die Differenz fließt als Mehreinnahme ins Budget. Bisher wurden diese Mehreinnahmen alle paar Jahre durch Steuerreformen abgegolten, nicht selten in unmittelbarer Nähe zu Wahlen, wie 2005, 2009 und 2016. Manchmal wurden dabei auch die Tarifstufen angepasst, aber nicht immer. Ab 2023 sollen zwei Drittel der kalten Progression automatisch kompensiert werden, indem die Tarifstufen mit der Inflation verschoben werden ("Tarif auf Rädern"). Ein Drittel bleibt als Spielraum der Politik erhalten, um spezifische Gruppen stärker als andere zu entlasten.