Es gibt viele Formen von Mehrsprachigkeit, elitäre Stereotypen und Ideale sind von gestern.
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"Wiener Zeitung": Können zweisprachig aufwachsende Menschen je beide Sprachen gleich gut sprechen? Oder dominiert die Sprache, die intensiver genutzt wird?Georges Lüdi: Ihre Frage basiert auf einer Voraussetzung, die ich nicht akzeptieren kann, denn Zweisprachigkeit ist eine Grenzform von Mehrsprachigkeit. Die Frage ist nicht, ob jemand zwei Sprachen spricht, sondern ob es mehr als eine ist. Die stereotypische Vorstellung von jemandem, der zwei Muttersprachen hat, die beide möglichst Prestige-Sprachen und perfekt ausgebaut sind, ist irreführend - eine Illusion. Denn man kann seine Muttersprache sogar verlieren.
Nehmen wir Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti. Seine Erstsprachen waren Bulgarisch und Spanisch. Mit elf Jahren ging er mit seiner Mutter zuerst nach Österreich und dann in die Schweiz. Den Nobelpreis erhielt er für Deutsch und nicht für die Erstsprachen, denn diese hatte er später schlicht vergessen.
Wir sollten einen anderen Zugang zur Frage der Zweisprachigkeit suchen, der auf einer breiten Definition von Mehrsprachigkeit aufbaut. Sie bedeutet, in der Lage zu sein, sich in zwei oder mehr Sprachen auszudrücken, zwischen ihnen zu wechseln und in den Lebensbereichen, in denen man sie benutzt, kommunikativ kompetent aufzutreten. Das alles ist weder verbunden mit frühkindlichem Spracherwerb, noch mit perfekter Sprachbeherrschung, noch zwingenderweise mit Schriftlichkeit. Sowohl ein sizilianischer Wanderarbeiter, der neben seinem Dialekt ein bisschen Schweizer Dialekt lernt, als auch eine EU-Dolmetscherin, die französisch-englisch aufgewachsen ist, sind zweisprachig. Es handelt sich nur um zwei Formen von Zweisprachigkeit.
Landläufig wird aber unter bilingual das perfekte Beherrschen zweier Sprachen verstanden.
Das ist die Definition des US-Linguisten Leonard Bloomfield aus 1933. Ich kenne jedoch keinen Wissenschafter in diesem Jahrzehnt, der diese traditionelle Definition noch beibehalten würde.
Kann man eine Sprache je perfekt sprechen?
Man kann keine Sprache perfekt sprechen. Zudem setzt man, wenn man mehrere Sprachen in seinem Repertoire hat, selten alle in den gleichen Lebensbereichen ein. Mit der Nutzung steigt die Kompetenz: Ich selbst bin zweisprachig aufgewachsen, zunächst Französisch und dann Deutsch. Kinderspiele konnte ich auf Deutsch nicht, aber alles, was die Schule betraf, schon. So ist das - etwas anderes gibt es nicht.
Ist denn eine Sprache wie ein Sport: Wenn man nicht trainiert, erschlaffen die Muskeln?
Es ist nicht eine Sache des Trainings im Sinne von bewusster Anstrengung, sondern des Gebrauchs, der sich gewissermaßen einfach ergibt. Wenn Sie eine Sprache erwerben, werden neurologische Netzwerke im Gehirn angelegt, also Verbindungen geknüpft zwischen Wörtern und deren Inhalt und Aussprache. Je häufiger Sie die Elemente der Sprache verwenden, umso stärker werden die Verbindungen. Wenn Sie eine Sprache hingegen nicht mehr verwenden, gehen die Verbindungen zurück.
Es gibt ein schönes Experiment eines US-Forschers aus Boston, dessen Kinder zweisprachig französisch-englisch aufwuchsen. Er übernahm eine Gastprofessur in der Schweiz und bat seine zwei Buben im Vorfeld, sechs monatelang jeden Monat eine Geschichte in beiden Sprachen zu erzählen. Zunächst waren die französischen Versionen bescheiden und die Englischen stark. Als die Kinder in der französischen Schweiz in die Schule gingen, stieg die Performanz im Französischen, während sie im Englischen leicht zurückging. Wieder in den Vereinigten Staaten, war es umgekehrt. Damit ist nachgewiesen, dass diese Kompetenzen innerhalb von kurzer Zeit kommen und gehen.
Liegt das auch daran, dass man in die Mentalität der örtlichen Bevölkerung einsteigt?
Sprachen sind nicht neutrale Werkzeuge, sondern sie werden in einer sozialen Umgebung mit bestimmten Funktionen verwendet. Für die Kinder in dem Experiment etwa hatte die Tatsache, dass ihre Klassenkameraden Französisch sprachen, einen größeren Wert, als dass der Vater es spricht.
Wenn ich in England bin und Englisch spreche, verhalte ich mich anders als in Österreich. Wie beeinflusst Sprache das Denken?
Die alte Hypothese, wonach das Sprachsystem das Denken beeinflusst, ist so nicht mehr haltbar. Was wir experimentell nachweisen können ist, dass die Sprache einen Einfluss darauf hat, wie wir eine Situation anschauen. Nehmen Sie an, Sie sehen einen Film, in dem eine Radfahrerin von rechts nach links fährt. Wenn Sie einen Engländer fragen, was die Frau tut, antwortet er im Präsens Partizip: "She is riding a bike", sie ist reitend. Im Deutschen würde hingegen mitschwingen, wohin sie fährt, "sie fährt einkaufen", hier ist Fahren ein teleologisches Verb. Zum Beweis zeigte die Studie, dass englische Probanden schön in die Mitte der Leinwand blickten, während Deutsche die Fahrtrichtung nach links verfolgten.
Beinhaltet Mehrsprachigkeit Multikulturalität?
Zwar ist es möglich, chinesische Literatur, Kunst und Philosophie zu studieren, ohne perfekt chinesisch zu können. Aber eine Sprache "nur" zum instrumentellen Zweck der Kommunikation zu erlernen, etwa um als österreichische Verkäuferin russische Kunden bedienen zu können, ist ein zu reduziertes Ziel. Zum Erlernen von Sprachen gehört, den Versuch zu wagen, sich der Kultur und der Mentalität zu nähern.
Wie kann vermieden werden, dass mit zunehmender Vermischung von Sprachen, etwa durch das Internet, keine perfekt gesprochen wird?
Französisch und Englisch wurden im 16. und 17. Jahrhundert standardisiert. In beiden Fällen hieß das, dass man sich an den Sprachgebrauch einer bildungsmäßigen und sozialen Elite hielt. Heute muss Queen‘s Englisch hingegen nicht mehr von den BBC-Sprechern gesprochen werden.
Sprache kann sich sehr rasch ändern. Sie wird demokratischer, indem man schaut, wie die Mehrheit spricht. Manche dieser Veränderungen sind logisch, selbst wenn sie von der Schulgrammatik abweichen. Gegen diese Abweichungen ist nichts einzuwenden, sie sind kein Rückschritt. Schon Aristoteles sagte, unsere Kinder können nicht mehr Griechisch: Sprache verändert sich also seit je her. Ich bin für Sprachenpflege, aber nicht für Historizismus. Man muss bedenken, was für die heutige Sprache richtig ist. Es ist normal, dass Sprachen sich austauschen und gewisse Vereinheitlichungstendenzen auftauchen.
Zur Person
GeorgesLüdi,
Jahrgang 1943, ist Professor am Institut für französische Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel. Seine Muttersprache ist Französisch, in der Schule lernte er Deutsch und schließlich Spanisch, Katalan, Englisch und Portugiesisch. Beim Forum Alpbach leitete er jüngst das Seminar "Masterig Communicative Challenges. Englisch and/or Multilingualism".
Georges Lüdi, Jahrgang 1943, ist Professor am Institut für französische Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel. Seine Muttersprache ist Französisch, in der Schule lernte er Deutsch und schließlich Spanisch, Katalan, Englisch und Portugiesisch. Beim Forum Alpbach leitete er jüngst das Seminar "Masterig Communicative Challenges. Englisch and/or Multilingualism".