Es gibt viele Möglichkeiten, wie eine Marathon-Karriere beginnen kann. Nicht jedem ist das Laufen in die Wiege gelegt, so mancher kommt erst im hohen Alter dazu. Und mitunter hat es sogar heilende Wirkung.
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Wer Sebastian Wendel heute sieht, kann höchstens ansatzweise erahnen, wie der 27-Jährige vor zehn Jahren ausgesehen hat. Im Alter von 17 Jahren wiegt der Deutsche nämlich keine 95 Kilo, sondern ganze 150, immerhin bei einer Körpergröße von 1,93 Metern. Nach einem eindringlichen Gespräch mit seinem Arzt und einem ernüchternden Besuch im Jeansladen - "Mir passte fast gar keine Hose mehr" - sagt er seiner Adipositas (36 Prozent Körperfett) den Kampf an und hungert sich in den darauffolgenden Jahren auf 120 Kilo hinunter. Statt Schweinefleisch gibt es nur noch Fisch und Geflügel, das schwere Frühstücksbrot wird durch Müsli ersetzt.
Und mit der gesünderen Ernährung kommt auch ein gesünderer Lebenswandel. Vor allem wird Sebastian Stammgast im Fitnesscenter und beginnt mit dem Laufen. 55 Kilo nimmt er zwischen 1999 und 2006 ab. Und mit dem neuen Gewicht von 95 Kilo fällt ihm auch das Laufen leichter. So leicht, dass er allein im Jahr 2006 insgesamt drei Marathons, elf Halbmarathons und fast zwei Dutzend kürzere Läufe absolviert. Bereits 2004 hat er den Köln-Marathon auf Anhieb in einer Zeit von 3:56 Stunden geschafft - mit einem Gewicht von damals noch 105 Kilo. Und das, obwohl er laut eigenen Angaben damals nicht zielgerichtet trainiert hat. Ausdauer hat er aber schon, und zwar von den Leistungsmärschen bei der Bundeswehr, wo er Zeitsoldat ist. Nach zahlreichen Siegen bei Laufveranstaltungen zählt Sebastian mittlerweile zu den lokalen Berühmtheiten seiner Heimat Meisenheim in Rheinland-Pfalz. Und wohler fühlt er sich jetzt, mit 11 Prozent Körperfett, auch: "Seit ich laufe, habe ich ein besseres Lebensgefühl", sagt er.
Ein besseres Lebensgefühl hat jetzt auch Reiner Calmund. Der schwergewichtige Fußballmanager (Bayer Leverkusen, Fortuna Düsseldorf, Austria Kärnten) hat sich nämlich in nur einem Jahr - von April 2008 bis April 2009 - um 30 Kilogramm erleichtert. Und ganz Deutschland durfte ihm dabei via "Stern-TV" und Internet (www.ironcalli.de) zusehen. Der 61-Jährige wog zwar nach der Radikalkur immer noch 137 Kilo, hat aber immerhin am 17. Mai 2009 seinen ersten Halbmarathon bewältigt, wenn auch im Walking. Denn Laufen ist doch noch etwas zu anstrengend für den "Iron-Calli". Beim Zieleinlauf des Ruhr-Halbmarathons von Gelsenkirchen nach Essen mit einer Zeit von 3:56 Stunden wird er trotzdem wie ein Volksheld gefeiert. Und er beweist, dass er zwar Gewicht, aber nicht seinen Humor verloren hat: "Ich fühle mich leicht wie eine Bleifeder", scherzt er auf die Frage, wie es ihm jetzt gehe. Warum sich Calmund die Strapazen, bei denen ihn der Musiker und Extremsportler Joey Kelly unterstützt hat, überhaupt angetan hat? "Es hat trotz allem Riesen-Spaß gemacht", erklärt Calmund. "Ich will etwas länger leben und ein bisschen Vorbild für andere Dicke spielen."
Weg von den Drogen. Heilende Wirkung hatte das Laufen auch für Hermann Wenning. Der heute 44-Jährige hat den totalen Absturz hinter sich: Um seine Mehrfachbelastung mit zwei Jobs als Auflager bei der Müllabfuhr und als Kellner in einem Nachtlokal zu kaschieren, greift der damals 31-Jährige im Jahr 1995 erstmals zu Ecstasy und kommt nicht mehr davon los. Denn plötzlich geht alles so viel leichter - bis die Wirkung nachlässt. Deshalb braucht er immer mehr, und ehe er es überhaupt realisieren kann, ist er schon ins Drogenmilieu hineingeschlittert - aus dem es für die meisten Junkies kein Entkommen gibt. Nach Jahren des Drogenmissbrauchs und einer Haftstrafe schafft Hermann Wenning aber das Unmögliche: Er kommt tatsächlich vollkommen von dem Stoff weg, der ihn so kaputt gemacht hat. Sieben Jahre braucht er dafür, und ohne den Laufsport hätte er es wohl nicht so gut hingekriegt. Gelaufen ist er zwar auch schon vorher - bereits als Jugendlicher landet er dank seiner "Pferdelunge" oft auf dem Podest -, aber jetzt hat das Laufen eine neue Dimension, es wird zur Therapie. Und so feiert er sieben Jahre, nachdem er sich die erste Ecstasy-Tablette eingeworfen hat, ein Comeback beim Volkslauf in seiner Heimat im Münsterland.
Heute arbeitet Wenning bei der Straßeninstandhaltung. "Aus dem Drogenmilieu bin ich endgültig draußen", sagt er. Seine Erfahrungen hat er in einem 280-seitigen Buch zusammengefasst: In "Lauf zurück ins Leben" blickt er zurück auf die sieben härtesten Jahre seines Lebens. Es ist eine schonungslose Offenbarung, die bei Freunden und Familie Überraschung auslöste. "Viele wollten zunächst kaum glauben, was ich da erzähle." Aber er bereut nicht, es sich von der Seele geschrieben zu haben, denn die Resonanz war bisher überwiegend positiv.
Keine Gelegenheit mehr, die schiefe Bahn wieder zu verlassen, hatte Johann Kastenberger. Der berühmte österreichische Volksläufer, dessen Leben vor kurzem von Benjamin Heisenberg verfilmt wurde ("Der Räuber"), hat sich nämlich im Alter von 30 Jahren am 15. November 1988 nach der bis dahin größten Fahndung der österreichischen Nachkriegsgeschichte auf der Flucht vor rund 450 Polizisten selbst erschossen. Zuvor hatte Kastenberger, der als "Pumpgun-Ronnie" (wegen der Waffe und der Ronald-Reagan-Maske, die er stets benutzte) bekannt wurde, mindestens neun Banken überfallen und vermutlich vier Menschen getötet. Markant an den Raubzügen des Marathonläufers war, dass er meistens zu Fuß flüchtete. Und bis heute hält Kastenberger den Rekord beim Kainacher Bergmarathon mit einer Zeit von 3:16 Stunden. Wer weiß? Hätte der Kriminelle mit den schnellen Beinen einen anderen Lebensweg eingeschlagen, wäre Österreich vielleicht heute um eine positive Marathon-Berühmtheit reicher.