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"Man rächt sich am Nächstbesten"

Von Michael Schmölzer

Politik

Ermordete Zivilisten bei Kiew: Oberst und Militärpsychologe Hubert Annen über mögliche Motive für die Gräueltaten.


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Im Kiewer Vorort Butscha wurden nach dem Abzug der russischen Truppen hingerichtete Zivilisten auf den Straßen und in Massengräbern gefunden. Ukrainische Medien sprechen von hunderten Toten. Es gibt starke Hinweise darauf, dass russische Soldaten Kriegsverbrechen begangen haben. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem Schweizer Militärpsychologen Hubert Annen über die Hintergründe derartiger Gräueltaten gesprochen.

"Wiener Zeitung": Könnte bei den möglichen russischen Gewaltexzessen in Butscha Frustration darüber, dass man der Situation nicht Herr geworden ist und die ukrainischen Streitkräfte vor der Hauptstadt Kiew nicht besiegt werden konnten, eine Rolle gespielt haben?

Hubert Annen: Man kann annehmen, dass das eine Rolle gespielt hat. Aber es ist generell so, dass in der russischen Armee die Schwelle zur Gewaltanwendung niedriger ist als in anderen Armeen - in Österreich und in der Schweiz beispielsweise. In Russland führen die Vorgesetzten mit harten Maßnahmen, die Unterstellten werden teilweise schikaniert. Hinzu kommt sicher Frustration über die zwischenzeitliche Niederlage vor Kiew. Natürlich kann es auch sein, dass Kameraden zu Tode gekommen sind oder schwer verletzt wurden. Und das wird dann auf solche Art und Weise kompensiert: Man rächt sich am Nächstbesten.

Welche Rolle spielt die russische Propaganda? Ukrainische Quellen sprechen davon, dass russische Kommandos durch Butscha gezogen seien und nach "Nazis" gesucht hätten, die dann erschossen wurden. Ist das vorstellbar?

Es gehört zur Kriegsrhetorik, dass man den Gegner herunterstuft, den Feind mit irgendeinem Attribut zu einem Menschen zweiter Klasse macht und das über die Informationsmaschinerie laufen lässt. Damit schafft man die Voraussetzungen für die eigenen Truppen, die dann weniger Hemmungen haben, sich am Feind auf widerrechtliche Art und Weise zu vergehen. Grundsätzlich gilt es zu bedenken: Es ist Krieg, es geht um Leben und Tod - entweder ich oder der andere -, und dann gelten andere Regeln.

Es gibt Berichte, die von einer enormen Disziplinlosigkeit in der russischen Armee sprechen. Britische Geheimdienste vermelden, dass ein Panzerfahrer seinen Kommandeur, einen Oberst, absichtlich niedergefahren hat. Ist es eine entfesselte Soldateska, die vor Kiew gewütet hat?

Es gibt da zwei Aspekte. Dass Vorgesetzte von ihren Unterstellten umgebracht werden, das hatte man im Vietnamkrieg. Es gab dort Hunderte beglaubigte Fälle von "Fragging", wo die Vorgesetzten mit einer "fragmentation grenade" (einer Handgranate, Anm.) umgebracht wurden. Das hat damit zu tun, dass man den Vorgesetzten nicht vertraut hat, dass man sie nicht als glaubwürdig betrachtet hat. Man wollte angesichts eines bereits verlorenen Krieges nicht, dass die Offiziere einen in ein weiteres Himmelfahrtskommando führen. Das andere ist, dass in der russischen Armee sehr viel mit autoritärer Gewalt geführt wird. Auf dieser Basis ist das dann auch umgekehrt. Wenn mein Verhältnis zu den Unterstellten rein auf Gewalt und Sanktionen basiert, dann wird der Unterstellte auch auf dieser Ebene funktionieren. Und wenn er nur noch mit Gewalt aus dieser Situation herauskommt, dann wird er sie anwenden.

Weil Sie den Vietnamkrieg erwähnen: Die Soldaten wurden dorthin geschickt und haben nicht gewusst, warum sie kämpfen sollen. Das ist vielleicht eine Parallele zu dem, was in der Ukraine geschieht. Die Ukrainer sind doch eigentlich Brüder, die Russen wissen nicht, was sie dort sollen. Und die Offiziere trauen sich keine Befehle mehr zu geben aus Angst, von den eigenen Mannschaften getötet zu werden?

Ich könnte mir vorstellen, dass bei der russischen Armee eine andere Kultur herrscht. Da werden diese Befehle einfach gegeben und man hat immer noch genügend Macht, dass das in den meisten Fällen funktioniert. Man muss sich vor Augen halten, welche Ausweichmöglichkeiten der russische Soldat hat. Grundsätzlich ist ihm die unmittelbare Umgebung der Kameraden, seine Primärgruppe, immer noch am Nächsten. Auch wenn sie Sachen macht, die er persönlich nicht mittragen kann. Aber die Primärgruppe bietet ihm Schutz und ist sein Umfeld, mit dem er vertraut ist. Der russische Soldat muss andere Optionen haben, damit er konstruktivere Handlungsweisen wählt.

Es gab in Vietnam das Massaker von My Lai, wo ein US-Leutnant mit seinem Trupp hunderte Zivilisten - Frauen, Kinder - getötet hat. Zunächst ging es den Amerikanern darum, Vietcong-Kämpfer zu suchen. Könnte es in Butscha auch so gewesen sein, dass ursprünglich Heckenschützen gesucht wurden und das dann zu einer Brutalisierung geführt hat?

Das ist tatsächlich so. In einem Krieg herrscht eine unglaublich emotional aufgeladene Situation, da ist auch enorm viel Stress, wo sich Grenzen verschieben. Wo es nur noch darum geht, dass eigenen Leben in irgendeiner Art zu sichern. Auch bei Friedensmissionen hat es immer wieder Verfehlungen von Soldaten gegeben, die in ein Gefecht verwickelt wurden und dann einfach nur noch rot gesehen haben.

Da wird dann nicht mehr zwischen Zivilist und Soldat unterschieden und nur noch wahllos um sich geschossen?

Ja. Aus Wut, aus Frustration. Es ist auch ein Zeichen von Hilflosigkeit, wenn es der Soldat einer Armee nötig hat, sich an der Zivilbevölkerung zu vergehen. Das ist Schwäche. Da bin ich nicht mehr auf Augenhöhe mit den anderen Streitkräften.

Sehen Sie noch eine mögliche Ursache für das, was offenbar in Butscha geschehen ist?

Die Gruppendynamik ist wichtig. Man weiß von Hooligan-Gruppen, deren Angehörige sich gegenseitig anstacheln. Die bekommen Anerkennung, wenn sie etwas ganz Brutales machen. Und dann schaukelt sich das auf und kann eine sehr, sehr schlimme Eigendynamik haben.

Man muss beweisen, wozu man fähig ist?

Es ist auch Action. Man weiß von US-Soldaten, die sich ja freiwillig melden, weil das Militär da eine gewisse Faszination hat. Das ist bei russischen Wehrpflichtigen nicht dasselbe, aber es gibt so etwas wie Belohnungsgefühle, wenn man Grenzen überschreitet. Es tönt angesichts der Opfer zwar blasphemisch, aber es ist wie bei einer Extremsportart, wo man mit einem Adrenalinschub belohnt wird. Den man dann vielleicht wieder erleben will.