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"Man will die Tatsachen nicht hören"

Von Walter Hämmerle und Hermann Sileitsch

Wirtschaft

Spitzenmanager über Europas Defizite und emotionale Debatten.


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"Wiener Zeitung": Wann haben Sie sich zuletzt gedacht: Hoppla, hier hat unser kapitalistisches Wirtschaftssystem eine falsche Abzweigung erwischt?Peter Brabeck-Letmathe: Den Kapitalismus gibt es nicht, das ist nur eine Idee, die nirgendwo in Reinform verwirklicht ist. Um zu funktionieren, braucht der Kapitalismus zum einen Moral und Ethik, zum anderen rechtliche Rahmenbedingungen. In Europa hat sich das zur sozialen Marktwirtschaft entwickelt . . .

Sie haben in den letzten Jahren, als die Medien voll mit Millionengagen für Manager und irrwitzigen Finanzkonstruktionen waren, nie den Kopf geschüttelt?Natürlich hat es Fehlentscheidungen gegeben, in der Schweiz war die geplante Abfindungszahlung in der Höhe von 72 Millionen Franken an Novartis-Aufsichtsratspräsident Daniel Vasella sicher nicht hilfreich. Wer 18 Jahre CEO und Aufsichtsratschef eines großen Konzerns war, sollte meiner Ansicht nach nicht so viel Geld erhalten, nur damit er nicht zur Konkurrenz läuft. Solche Exzesse hat es gegeben und darüber habe ich sehr wohl den Kopf geschüttelt. Diese sind wohl auch hauptverantwortlich für die neue Regulierungswelle, die derzeit auf die Wirtschaft zukommt.

Halten Sie diese Re-Regulierung für richtig oder falsch?

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Zur Person Peter Brabeck- Letmathe,geb. 1944 in Villach, studierte an der Hochschule für Welthandel in Wien. 1968 Eintritt bei Nestlé; CEO von 1997 bis 2008; seit 2005 Präsident des Verwaltungsrats. Brabeck war auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen in Wien.

Für falsch. Wir hatten eine Finanzkrise, die nichts anderes war als der Vorläufer zu etwas, das schon lange vorher da war, nämlich eine große Staatsschuldenkrise. Daraufhin hat man begonnen, die Realwirtschaft stärker zu regulieren, aber die Realwirtschaft war weder für die Finanz- noch für die Staatsschuldenkrise verantwortlich. Damit schädigt man die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der europäischen Realwirtschaft.

Welche Verantwortung trägt hier die Finanzwirtschaft? Immerhin müssen etliche Staaten sehr, sehr viel Geld in die Hand nehmen, um einzelne Banken zu retten.

Die meisten Staaten, die Banken retten mussten, haben daraus einen großen Gewinn erzielt.

Österreich hat dies bisher netto 4,8 Milliarden Euro gekostet - und die Schlusssumme könnte noch deutlich höher liegen . . .

Österreich kann ich nicht beurteilen, aber die Schweiz hat aus ihrer Hilfe für die UBS sechs Milliarden Franken verdient; Ähnliches gilt auch für die USA.

Sie sprechen den Finanzsektor frei von Schuld an der Finanzkrise?

Ich spreche niemanden frei, ich sage nur, dass die meisten Staaten, wenngleich nicht alle, an den Bankenhilfen verdient haben; dieser Seite der Medaille wird nicht die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet.

Auf EU-Ebene werden Pläne gewälzt, die Möglichkeiten von Konzernen, ihre Steuerleistungen zu minimieren, einzuschränken . . .

Jedes Unternehmen ist verpflichtet, seine Steuern zu bezahlen, wie es das jeweilige Land vorschreibt. Der Standort Europa hängt aber nicht nur von der Steuerpolitik ab, sondern von seiner Wettbewerbsfähigkeit insgesamt ab. Der wichtigste Faktor ist hier die Demografie: Europas Bevölkerung schrumpft. Für eine Konsumgüterwirtschaft ist zunächst entscheidend, ob es mehr oder weniger Konsumenten gibt.

Dann geht es um Arbeitskosten und Rahmenbedingungen. Sind diese in Europa wettbewerbsfähig? Meiner Ansicht nach jeden Tag etwas weniger. Ein Beispiel: Wir sprechen seit Jahren von der Notwendigkeit einer europäischen Industriepolitik. Schön und gut, aber jede vernünftige Industriepolitik muss auf einer starken Energiepolitik aufbauen. Davon ist in Europa jedoch nicht einmal in Ansätzen die Rede, hier hat jeder Staat seine eigenen Konzepte. Wir haben eine Politik für Glühbirnen, aber keine gemeinsame Strategie bei der wichtigsten Voraussetzung für eine europäische Industriepolitik. Auch das ist ein Grund für unsere sinkende Wettbewerbsfähigkeit. Dabei hat Europa die weltweit konkurrenzstärksten Unternehmen.

Woran liegt das, an der Qualität der Manager, der Mitarbeiter?

Nein, nicht an den Managern, sondern daran, dass sich Europas Großkonzerne schon vor langer Zeit globalisiert haben, sowohl bei der Kapitalstruktur als auch beim Aktionsradius. Nur weil wir jene Forschungen, die in Europa nicht möglich sind, in andere Regionen auslagern, bleiben wir wettbewerbsfähig. Sogar in der Forschung, etwa bei den Biowissenschaften, werden uns die Hände gebunden. Als ich 1997 CEO von Nestlé geworden bin, war Europa mit 54 Prozent unsere stärkste Region. Jetzt sind Nord- und Südamerika und Asien-Ozeanien-Afrika wichtiger geworden.

Verspielt Europa seinen Wohlstand, wenn diese Defizite für den Standort nicht korrigiert werden?

So, wie sich Europa derzeit entwickelt, werden wir Japan immer ähnlicher, das seit über 20 Jahren nicht aus der Stagnation herauskommt. Da ist es unvermeidlich, dass wir an Wohlstand einbüßen. Aber das ist zugleich ein logischer Prozess: Wir sind 550 Millionen Menschen, die über Jahrzehnte privilegiert gelebt haben, großteils dank der Ressourcen anderer Länder. Diese Länder holen jetzt auf; ganz einholen können sie uns ohnehin nicht, weil dafür existieren nicht ausreichend Ressourcen auf unserer Erde.

Sie kritisieren die Hürden für Forschung. Gerade in Österreich ist die Skepsis gegenüber der Wissenschaft - Stichwort Gentechnik - groß. Könnte es nicht sein, dass gerade die Nahrungsmittelindustrie diese verstärkt? Weil sie Inhaltsstoffe von Lebensmitteln nicht genau angibt - jüngst sorgte der Pferdefleischskandal für Schlagzeilen.Bleiben wir bei den Fakten: Erstens, noch nie waren Lebensmittelversorgung und -sicherheit besser. Zweitens, der sogenannte Pferdefleischskandal war schlicht Betrug, und Betrüger sollen bestraft werden, das ist ganz normal. Stattdessen wird mit neuen und neuen Regulierungen reagiert, dabei war in 99,9 Prozent aller Fälle alles völlig korrekt.

Sie haben sich das Thema Wasser auf die Fahnen geschrieben. In Österreich sorgte die EU-Konzessionierungsrichtlinie für Aufregung, weil sie der Privatisierung der Wasserversorgung Vorschub leisten soll. Auch Nestlé ist im Wassergeschäft aktiv.

Warum sollte Nestlé ein Interesse daran haben? Wir sind überhaupt nicht im Trinkwassergeschäft, hier kommen Emotionen auf, die lächerlich sind.

Haben Sie für dieses emotionale Misstrauen eine Erklärung?

Ja, in der öffentlichen Debatte will man die Tatsachen nicht hören und nicht lesen! Wir haben, global gesehen, ein Wasserproblem: Die Menschheit verbraucht 10 Prozent mehr Wasser, als nachhaltig ist. Wer verbraucht das Wasser? 70 Prozent die Landwirtschaft, 20 Prozent die Industrie, 10 Prozent die Haushalte. Wasser ist ein Menschenrecht, daran kann es keinen Zweifel geben: Jeder Mensch hat das Recht auf täglich 5 Liter zur Versorgung und weitere 20 Liter zur körperlichen Hygiene. Der Anteil dieses Wassers als Menschenrecht entspricht 1,5 Prozent des gesamten Verbrauchs. Was ich sage, ist, dass die übrigen 98,5 Prozent des Wassers, die wir großteils verschwenden, kein Menschenrecht sind. Und warum wird dieses Wasser verschwendet? Weil es keinen Wert hat. Das sind die Tatsachen. Stattdessen redet man darüber, dass ein Unternehmen wie Nestlé, ein Wirtschaftskonzern nicht über das Wasser reden darf.

Wer soll Wasser einen Preis geben?

Bei uns hat Wasser seinen Preis, Sie bezahlen Gebühren. Ansonsten kann und muss der Preis nur lokal bestimmt werden, Wasser kann keinen Weltmarktpreis haben, das ist der Unterschied zum Ölpreis. Entscheidend ist: Wie viel Wasser ist vor Ort vorhanden, wie wird es genutzt? Ob die Tarife jetzt die öffentliche Hand oder ein privates Unternehmen festlegt, ist unwichtig. Wichtig ist, dass Wasser endlich einen Wert erhält. Wenn das nicht geschieht, kann ich Ihnen versichern, dass uns das Wasser lange vor dem Rohöl ausgeht.

Nestlé bietet Wasser in Flaschen zum Verkauf an. Ist das ein Schritt in die angestrebte Richtung?

Nestlé als führender Anbieter von Wasserflaschen verwendet 0,0009 Prozent des Wassers. Wir sind nicht im Wettbewerb mit Trinkwasser, unsere Konkurrenten sind Limonaden oder andere Süßgetränke. Wenn ich Wasser nehme und Zucker hineinwerfe, ist für die Öffentlichkeit alles okay. Sobald ich aber reines, bestes Wasser abfülle und verkaufe, das beste Mittel gegen die grassierende Fettleibigkeit bei Jugendlichen, dann soll ich plötzlich ein Krimineller sein? Das verstehe ich nicht. Das ist reine Polemik.

Verstehen Sie die Sorge, die viele Menschen angesichts der Finanzturbulenzen und Notenbankpolitik um ihr sauer Erspartes haben?

Ich habe keine Sorge um mein Geld, ich habe dagegen große Sorgen, ob der Staat weiterhin für eine funktionierende Altersversorgung garantieren wird können.

Nestlé hat seinen Sitz in Vevey im Schweizer Kanton Waadt. Der weltgrößte Nahrungsmittelkonzern erzielte 2012 rund 74 Milliarden Euro Umsatz - mit 340.000 Mitarbeitern und 468 Fabriken in 86 Ländern. Der Nettogewinn waren 8,5 Milliarden Euro. Zu den bekanntesten der mehr als 2000 Nestlé-Marken zählen Nespresso, Nesquik, Nestea (Getränke), Pure Life, Perrier, S. Pellegrino (Wasser), Maggi, Buitoni (Fertignahrung), Kit Kat, Smarties (Süßes), Häagen-Dazs, Mövenpick (Eis) und Purina (Tierfutter).