Zum Hauptinhalt springen

"Man wird selbst leer im Kopf"

Von Clemens Neuhold

Politik
Agnosie: Die Unfähigkeit, Gegenstände zu identifizieren oder wiederzuerkennen. Eine Begleiterscheinung schwerer Demenz.
© Caro

Angehörige von Dementen leben am Limit -wie lange geht sich das noch aus?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. Der 78-jährige Helmut Reither ist Ernährungsexperte. Muss es sein. Jeden Tag vermanscht er fünf Obstsorten zu einem Brei und achtet auf die Richtung Mischung aus Mineralstoffen wie Magnesium oder Kalium. Den Brei füttert er seiner Frau. Eine Stunde dauert das an normalen Tagen. Die 72-Jährige (nicht die Frau im Bild) ist eine von 120.000 Demenzkranken. Bis 2050 kann die Zahl auf bis zu 290.000 Demente steigen, prognostizieren Mediziner. Parallel dazu wird die Zahl jener Menschen steigen, die so wie Herr Reither ihr Leben auf die Demenz eines anderen ausrichten. Denn 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Österreich werden von den Angehörigen gepflegt, dem "eigentlichem Pflegehelfer der Nation", wie Caritasdirektor Michael Landau es ausgedrückt hat.

Nach dem Frühstück kommt das Mittagessen, dann das Abendessen. Dazwischen hebelt Reither seine Frau mit Griffen, die er sich selbst beigebracht hat, aus dem Bett und wieder hinein, wickelt sie alle zwei Stunden und streichelt sie am Ende des Tages mit ein paar Anekdoten in den Schlaf - "als wäre sie meine kleine Tochter".

Der ewige Graubereich

Vor 15 Jahren zog das Grau im Leben von Frau und Herrn Reither ein und damit eine Krankheit, die heute noch ein Tabu ist; und sich vom Krankheitsbild her damals umso mehr im Graubereich bewegte. "Sie hat ja nur bissl einen Deppscher und kann ja noch Wischerln gehen." So fasst Reither heute die Reaktionen auf seine ersten Anträge auf Pflegegeld zusammen. Er begann bei Stufe eins und kämpfte sich - teils vor Gericht - auf Stufe sieben durch. Heute kann seine Frau längst nicht mehr alleine aufs Klo. "Die letzten Erhöhungen des Pflegegeldes gingen durch wie durch Butter", sagt er und sieht darin ein gestiegenes Problembewusstsein. Besonders Sozialminister Erwin Buchinger habe die Situation der Demenzkranken verbessert.

Doch hat sich auch seine eigene Situation, sein Leben in der Grauzone, verbessert? "Man wird selbst leer im Kopf. Es ist wie als Strafgefangener auf Ausgang. Bin ich kurz beim Heurigen muss ich punkt 18 Uhr wieder heim."

Heim nach Heimsuchung?

Er könnte sich selbst in Freiheit entlassen und seine Frau in ein Heim geben, doch das war für ihn "nie eine Option". "Nichts gegen die Pfleger dort, aber wer dreht meine Frau in der Nacht um, wickelt sie und streichelt sie so wie ich? Das geht sich dort vom Personal her nicht aus. Ich habe einmal probiert, die ganze Nacht auf einer Seite zu liegen. Ich will mir das für meine Frau nicht vorstellen."

Doch Reither ist auch ohne Heim nicht alleine. Er bezieht eine "halbe" 24-Stunden-Pflege. Normalerweise wechseln sich zwei Pflegerinnen, die meist aus der Slowakei kommen, alle zwei Wochen ab und sind dazwischen in ihrer Heimat. Reither hat sich eine Pflegerin für zwei Wochen genommen, damit er in dieser Zeit die Leere im eigenen Kopf durch Ausflüge oder Besuche seiner Tochter auffüllen kann. Die Tochter will er nicht über Gebühr einspannen. "Sie ist in einem kleineren Betrieb, da kannst Du nicht ständig fehlen. Und eine Pflegekarenz passt für uns nicht."

Die neuen Lücken

Die passende Pflege finden. Das wird nicht leichter mit der Alterung der Gesellschaft - 2050 wird es über eine Million Menschen über 80 Jahren geben - und steigenden Pflegebedarf. Ständig gehen neue Lücken auf. 2007 wurde mit der 24-Stunden-Pflege eine große geschlossen. Die Lücke hieß damals "Pflegenotstand", und der war so groß geworden, dass das Thema den Wahlkampf 2006 dominierte. Nach harten Debatten legalisierte die neue Regierung schließlich die Pflegerinnen aus Osteuropa, die zuvor illegal im Land waren. Aktuell arbeiten über 40.000 selbständige Pflegerinnen in Österreich. Doch die kosten rund 60 Euro pro Tag.

Günstiger sind mobile Pfleger oder Betreuer, die bloß ein paar Mal pro Tag vorbeischauen, den Haushalt, das Bett, das Essen machen, sofern die Klienten sonst alleine zurechtkommen. Die neue Lücke klafft dazwischen. Was ist mit den Pflegenden, die täglich ein paar Stunden Hilfe bräuchten oder am Wochenende? Oder was ist mit jenen, denen ein mobiler Dienst zu wenig, die 24-Stunden-Pflege aber zu viel ist? Die müssen jetzt gleich auf die Rundum-Pflege springen, selbst wenn Sie die Nachtschicht selbst übernehmen könnten. Herr Reither hat sie auf seine eigene Art geschlossen. Andere bräuchten "Entlastungskräfte", um die Lücke zwischen Mobil und Rundum zu schließen.

Die Einsamkeit der Helfer

Für Landau geht es um nicht weniger als darum, die "Vereinsamung" jener zu verhindern, die ihre Angehörigen pflegen und dabei Gefahr laufen, ihre sozialen Kontakte zu verlieren. Für diese neuen Modelle braucht es mehr Geld und Personal. "Bei mir wird es langsam eng", sagt Reither. Die medizinischen Kosten steigen mit der Demenz und gleichzeitig verliert das Pflegegeld an Wert.

Einen "Pflegenotstand" wie 2006 ruft die Caritas nicht aus. Aber sie fordert - von welcher Folgeregierung auch immer - mehr Geld fürs Pflegegeld und eine Aufwertung der Sozialberufe, damit die Lücken rasch und unbürokratisch geschlossen werden.

Einstweilen geht eine neue Qualitätslücke bei der 24-Stunden-Pflege auf. Immer mehr ausländische Agenturen bieten Billigpflege über das Internet an. Landau fordert deswegen Qualitätssiegel für Vermittlungsagenturen.

Die Qualität der Pflege durch den eigenen Lebenspartner werden freilich die besten Agenturen nie erreichen.