US-Mediziner: "Wir brauchen unbedingt neue Therapien." | Heutige Arzneien können das Leiden höchstens lindern. | NewYork. (ap) Die Krankheit zerstört Karrieren, zerbricht Beziehungen und treibt Menschen in den Suizid. Mediziner rätseln über die Ursache der bipolaren Störung, die auch als manisch-depressive Erkrankung bezeichnet wird. Seit der Zulassung von Lithium vor über 50 Jahren ist kein Mittel mehr gegen diese Erkrankung entwickelt worden. Dabei sind unzählige Menschen davon betroffen - in den USA einer Studie zufolge fast sechs Millionen Erwachsene.
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Die vorhandenen Medikamente können die Beschwerden nur lindern. "Sie verringern zwar die Symptome, aber das reicht nicht", sagt Husseini Manji vom amerikanischen Nationalen Institut für Mentale Gesundheit. "Vielen Patienten wird geholfen, aber gut geht es ihnen nicht." Angesichts der Not prüfen Forscher nun diverse Präparate, etwa das gegen Reiseübelkeit eingesetzte Scopolamin, das Brustkrebs-Mittel Tamoxifen oder das gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) verwendete Medikament Riluzol.
Auffälligstes Symptom der bipolaren Störung ist die Manie, eine Ruhelosigkeit, die Wochen andauern kann. "Man hat so viel Energie, so viele Ideen", sagt Tamara aus Pittsburgh, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Aber auch Gefühle wie etwa Ärger werden drastisch verstärkt. "Wenn jemand auf einer Party ein Getränk über mir verschüttete, bin ich ausgerastet", erzählt die 26-Jährige. Tamara hatte ständig Ärger, im Beruf wie im Privatleben.
Und dann ist da die andere Seite: Depressionen, die ebenfalls lange andauern und das Leben tiefgrau färben. "Alles langweilt einen, nichts ist mehr interessant", berichtet Tamara. "Man will nur noch schlafen." Suizidgedanken erschreckten die Frau so sehr, dass sie professionelle Hilfe suchte. Jetzt nimmt sie Lithium und ein anderes Mittel. "Momentan geht's mir gut", sagt sie.
Extreme Schwankungen
Tamara hat Glück. Denn Niedergeschlagenheit ist als Teil einer bipolaren Störung schwerer zu behandeln als eine normale Depression. Zudem vertragen viele Patienten Medikamente wie etwa Antipsychotika nicht, die zu Übergewicht, Schläfrigkeit oder Zittern führen können. Voriges Jahr ergab eine Studie, dass rund 60 Prozent der Patienten in den ersten zwei Monaten von der Therapie profitierten. Aber nach zwei Jahren war dieser Prozentsatz um die Hälfte gesunken, wie der Harvard-Psychiater Andrew Nierenberg berichtet. "Das heißt, dass es noch reichlich Raum für Verbesserungen gibt", konstatiert Nierenberg. "Deshalb brauchen wir unbedingt neue Therapien."
Die extremen Stimmungsschwankungen sind Ausdruck einer chronischen Gehirnerkrankung, und "wir haben einfach keine Ahnung, was hinter dieser Erkrankung steckt", sagt Harvard-Forscher Gary Sachs. Dies ist der Grund, warum seit Lithium kein Mittel mehr gegen die Krankheit entwickelt wurde. Und ebenso wie Lithium wurden die Eigenschaften der Präparate, die nun auf dem Prüfstand stehen, durch Zufall entdeckt.
Beispiel Scopolamin: Vor einigen Jahren untersuchte der Forscher Wayne Drevets den Einfluss des Mittels, das sonst gegen Reiseübelkeit hilft, auf das Gedächtnis depressiver Menschen. Während andere Antidepressiva Wochen brauchen, bis sie die Stimmung aufhellen, fühlten sich diese Patienten schon gleich nach den Scopolamin-Injektionen besser. "In vielen Fällen hielt die Besserung Wochen und sogar Monate an", sagt Drevets. Nun testet man, wie Scopolamin-Pflaster bei bipolaren Störungen wirken.
Andere Wissenschafter untersuchen das ALS-Medikament Riluzol. Ihnen war aufgefallen, dass Riluzol im Gehirn von Ratten die Bildung eines Proteins ebenso anregt wie ein Antidepressivum. In einer kleinen Studie half das Präparat manchen Patienten tatsächlich.
Auf ähnliche Weise stießen Wissenschafter auf einen möglichen Effekt des Brustkrebs-Mittels Tamoxifen. In einer gerade veröffentlichten Studie besserte das Mittel die manischen Symptome bei 63 Prozent der Patienten. Laut der Zeitschrift "Bipolar Disorders" hemmt das Präparat im Gehirn das Enzym Proteinkinase C (PKC), das vermutlich während der manischen Phase übermäßig aktiv ist. Wegen der gravierenden Nebenwirkungen will Forscher Manji das Medikament aber nicht generell als Therapie verwenden, sondern andere Mittel mit ähnlicher Wirkung entwickeln.
Helfen Genomanalysen?
Die größten Hoffnungen legen Wissenschafter in die laufenden Genomanalysen. Die Untersuchung der Erbanlagen soll diejenigen Genvarianten ermitteln, die Menschen für bestimmte Erkrankungen anfällig machen. Diese Studien, so die Hoffnung, könnten die zugrunde liegenden Mechanismen der bipolaren Störung enthüllen und damit neue Möglichkeiten zum Entwickeln von Medikamenten erschließen. Die Untersuchungen könnten endlich Aufschluss geben über den biologischen Hintergrund der Erkrankung. Harvard-Forscher Gary Sachs: "Ich glaube, diese Genomstudien werden tatsächlich die Brücke zu besseren Therapien sein."