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Frankreichs "roter Volkstribun" will Reiche mit 100 Prozent besteuern.
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Paris. Wer sagt, dass die Präsidentschaftskampagne in Frankreich nicht zündet, der war nicht auf dem symbolträchtigen Platz der Bastille in Paris, als Jean-Luc Mélenchon dort vor Zehntausenden die Faust in die Luft reckte, und auch nicht am vorigen Wochenende in Marseille, wo er erneut vor einem Meer aus roten Fahnen sprach. Der Bewerber der Linken Front (Front de Gauche) vollbringt, was den anderen Kandidaten nicht gelingt: Enthusiasmus, ja ein revolutionäres Feuer zu entfachen. Er rühmt sich sogar, Wahlkampfauftritte auf offenen Plätzen, wie sie am Wochenende auch Präsident Nicolas Sarkozy und der sozialistische Kandidat François Hollande abhielten, zur Mode gemacht zu haben.
Dass Ökonomen die Kosten für sein Programm auf gigantische 130 Milliarden Euro beziffern, stört die glühenden Anhänger des Ultralinken nicht: Sollen doch "die Reichen" bezahlen. "Wir wagen, das Geld dort zu nehmen, wo es ist", erklärt der 60-Jährige selbstbewusst. Für Jahreseinkommen ab 360.000 Euro sieht er eine 100-prozentige Besteuerung vor, außerdem eine Rückkehr zur Rente mit 60 und eine Anhebung des Mindestlohns auf 1700 Euro monatlich. Besonders Schüler, Studenten und Arbeiter überzeugen diese Ideen.
Mélenchons Vision von einer radikalen Umverteilung der Reichtümer zugunsten der Benachteiligten hat ihn zum Überraschungs-Star dieses Wahlkampfes gemacht. Hinzu kommt das unbestreitbare Redetalent des Mannes, den die Medien einen "roten Volkstribun" oder "Napoleon der Linken" nennen. Umfragen sehen ihn momentan bei 14 Prozent, zeitweise hat er die Rechtspopulistin Marine Le Pen schon vom dritten Platz verdrängt. Diese verachtet ihn als "Besenwagen" des Sozialisten François Hollande; Mélenchon wiederum, der im marokkanischen Tanger geboren wurde und Einwanderung als Chance sieht, attackiert sie für ihre Stimmungsmache gegen Ausländer und Muslime.
Dabei haben die Linke und Le Pens Nationale Front (Front National) Gemeinsamkeiten: Beide fordern Wirtschaftsprotektionismus, wettern gegen Europa und buhlen um die kleinen Leute, die den sozialen Abstieg fürchten. Beide sind Lautsprecher der Wut und gelten als charismatisch; in diesem Punkt überflügelt der wortgewaltige Mélenchon deutlich den farblosen Hollande. Selbst Sarkozy und seine Umgebung gestehen ihm zu, er habe Talent, Temperament und Ideen.
"Werde Élysée-Schlüssel
in die Seine werfen"
Mélenchon ist ein abtrünniger Sozialist. Mehr als 30 Jahre lang war er Parteimitglied, unter anderem Senator und Minister für Berufsausbildung, bis er 2008 nach dem Vorbild seines Freundes Oskar Lafontaine seine eigene Links-Partei gründete, für die er im Europaparlament sitzt. Heute versichert er, unter keinen Umständen Mitglied in einer Regierung unter einem Präsidenten Hollande zu werden: Dass er nicht aus Machthunger seine Prinzipien aufgeben will, kommt an; andererseits müssen seine Vorschläge wohl nie dem Realitätstest standhalten.
Mélenchon will eine "sechste Republik" mit einem Ende der "fünfjährigen Präsidial-Monarchie" und einer stärkeren Rolle für das Parlament. "Ich werde die Schlüssel für den Élysée-Palast in die Seine werfen", prophezeit er für den Fall seines Wahlsieges.