Karl Nehammer muss am Parteitag der ÖVP Ideen vermitteln, wie er das Kanzleramt verteidigen kann. Eine Nachfrage.
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Eine programmatische Rede soll es werden. So kündigt die ÖVP den Auftritt von Bundeskanzler Karl Nehammer am Parteitag in Graz am Samstag an. Die Delegierten werden ihn, so viel ist sicher, mit großer Mehrheit zu ihrem Obmann küren. Was ihnen Nehammer zuvor erzählen wird, ist aber noch ein Geheimnis. Nur so viel: Die Rede wird etwa eine halbe Stunde dauern.
Es wäre aber eine Überraschung, wenn der Kanzler den geladenen Mitgliedern Pläne zum Umbau der Partei und der Republik vorlegen würde. Das hat Sebastian Kurz bei seiner ersten Wahl 2017, zumindest bis zu einem gewissen Grad, getan. Doch der niederösterreichische Arbeitnehmerbund, aus dem Nehammer stammt, gilt nicht gerade als Apologet der Veränderung. Und wenn, dann in die Richtung, dass alles so werden soll, wie es früher war.
In Zeiten, in denen die einzige Gewissheit darin zu bestehen scheint, dass die unmittelbare Zukunft nicht besser wird, ist es für Nehammer doppelt schwer, ein für seine Partei optimistisches Narrativ zu zimmern. Auch Kurz war für die Volkspartei eine Zumutung, aber dekoriert mit viel Hoffnung. Die Statutenänderung, die Kurz mehr innerparteiliche Macht gab und vom Parteitag damals abgesegnet wurde, begleitete der Jung-Obmann mit der Ankündigung, dass es "nicht die letzte Veränderung für die ÖVP sein" werde. Wenn sich die Partei aber verändere, könne sie wieder so stark werden, dass man das Land verändern könne, sagte Kurz im Juli 2017.
Eines dieser Versprechen hielt Kurz: Unter ihm wurde die ÖVP tatsächlich wieder so stark, dass sie seither den Kanzler stellt. Die Partei selbst änderte er doch nicht weiter. Und das Fenster der Möglichkeiten zu einer tiefergreifenden Parteireform hat sich auch wieder geschlossen - zumindest einer selbstgewollten. Die Anpassungen bei der Parteienfinanzierung und aktuelle Aufdeckungen, etwa in Vorarlberg, bedingen Änderungen, doch die sind oktroyiert und daher kein verbaler Verkaufsschlager auf einem Parteitag.
In Graz richtet sich der Kanzler primär an die eigenen Delegierten. Und so wie eine SPÖ-Vorsitzende auf einem Parteitag kämpferischere Töne anstimmen wird, als sie es als Kanzlerin nach einem Ministerrat tun würde, muss auch die Rede des ÖVP-Obmanns als Kommunikation nach innen verstanden werden. Daher ist nicht anzunehmen, dass sich Nehammer dem Thema Korruption selbstreflexiv annehmen wird. Doch so wie Kurz seiner Partei damals das Gefühl gab, dass mit ihm das Kanzleramt zurückgewonnen werden kann, muss Nehammer die Fantasie vermitteln, dass sie es unter ihm halten kann. Und da könnte dieses Thema noch eine Rolle spielen, das eher nur für sehr eingefleischte Schwarze und Türkise "kein Thema" ist.
Wie die ÖVP wieder eine Volkspartei wurde
Die aktuellen Umfragen sehen die ÖVP wieder dort, wo man vor Kurz lag, mit erheblichem Rückstand zur SPÖ. Das Hoch dazwischen resultierte nachweislich aus Zugewinnen von anderen Parteien, vor allem von der FPÖ. Dieser Wählergruppe hatte Kurz ein Angebot in der Migrations- und Integrationsfrage gestellt, wobei er für die zweite Frage ein Assimilationsgebot erließ. Das wirkte.
Auch für SPÖ-Wähler versuchte die "Neue Volkspartei" attraktiv zu werden. Einerseits durch einen "Pensionspopulismus", wie es der Sozialforscher Christoph Hofinger vom Sora Institut formuliert. Andererseits thematisierte die ÖVP ganz bewusst das Sozialsystem, das unter anderem durch Kürzungen bei Ausländern abgesichert werden soll. "Man wollte den Sozialdemokraten wenig Luft im Wahlkampf lassen", sagt Hofinger. Auch das klappte.
Ein dritter Aspekt könnte die Aktivierung einer Art stillen Wählerreserve gewesen sein, also Personen, die vielleicht, aber vielleicht auch nicht die ÖVP gewählt hätten. Oder, wie es Klubchef August Wöginger einst pointiert sagte, Kinder, die nach Wien ziehen und "als Grüne zurückkommen". Wie relevant diese Gruppe ist, lässt sich mangels Evidenz nicht sagen. "Aber es ist eine plausible These, dass Abflüsse zu anderen Parteien verhindert wurden", sagt Hofinger. Die türkise Wählerschaft habe die demografische Vielfalt widergespiegelt. "Die ÖVP ist wieder zu einer Volkspartei geworden."
Wer von allen gewann, kann auch an alle verlieren
Wenn nun am Samstag Karl Nehammer offiziell die ÖVP übernimmt, ist ein Gutteil dieser Wählerschaft aber schon wieder weg. Das muss nicht von Dauer sein, und der neue Obmann wird den Delegierten in Graz, zumindest implizit, eine Idee geben müssen, wie er sie wieder an die Volkspartei binden will. Denn an dieser Frage hängt die Kanzlerschaft und an der Kanzlerschaft wiederum seine Zukunft als Parteichef.
Nehammer muss nur einen Teil überzeugen. Der Politologe Fritz Plasser spricht von etwa "20 Prozent" dieser bunten Wegbegleiter. Doch wie? Hofinger sieht das "strategische Dilemma", dass die ÖVP auch wieder "in alle Richtungen verlieren kann". Daher ist anzunehmen, dass sich in der Positionierung der Partei wenig ändern wird. Bisher deutet auch nichts irgendwie auf einen Kurswechsel. Es sei eher eine Frage der "Akzentuierung", sagt der Politologe Fritz Plasser mit Verweis auf Migration. Schleift man aber die Zuspitzung ab, da wie dort, können die Konturen verschwimmen und die Positionierung unklar werden.
Eine Chance für Nehammer sieht Plasser in der Krisenbewältigung. Auch Kurz hatte schnell erkannt, dass in einer Krise ein Schaden zwar unvermeidlich ist, man aber besser als andere sein kann. Das wäre ein Erfolg. Deshalb wurde die Pandemie zu einem Ländermatch. Ein Match übrigens, das Österreich, trotz früher Führung, nicht gewann.
Martin Kocher als Schlüsselfigur in der Krise
Klar ist, dass bei der aktuellen massiven Teuerungskrise die Bilanz am Ende besser sein muss. Man müsse "das Maximum herausholen", sagt Plasser. Sicher ist aber auch, dass die Bilanz unterschiedlich gelesen und bewertet werden wird. Schon jetzt ist zwischen Regierung und Opposition, anders als am Beginn der Pandemie, als noch Eintracht und "Schulterschluss" herrschte, ein Kampf um Deutungshoheit ausgebrochen. Vor allem SPÖ und FPÖ werfen der Regierung nahezu täglich vor, nichts gegen die Teuerung zu unternehmen, beide fordern milliardenschwere Steuerentlastungen.
"Wenn eine Stunde geschlagen hat, dann die von seriöser Sachpolitik und Realismus", sagt Plasser, der in der Person des neuen Wirtschaftsministers Martin Kocher eine Schlüsselfigur auch für Nehammer sieht. Kraft seiner Expertise könne der Ökonom die mitunter überzogenen Forderungen der Opposition parieren. Man werde, so Plasser, "erst in den nächsten Monaten sehen, wie die ÖVP das konzeptionell nützen wird".
Schon am Samstag wird auch darauf Aufmerksamkeit zu legen sein. Setzt Nehammer auf trockenen Realismus oder verspricht er das Blaue vom Himmel? Die eine oder andere Ankündigung in Sachen Inflationsbekämpfung wird es in Graz wohl geben.