Dysfunktion aus der Tabuzone geholt. | Problem meist organisch bedingt. | Göttingen. (ap) Die blaue Pille veränderte den Blick der Ärzte auf ein komplexes medizinisches Problem: Vor zehn Jahren, am 27. März 1998, wurde in den USA das Medikament Viagra zur Behandlung von Erektionsstörungen zugelassen. Freimütig räumen Fachärzte inzwischen ein, die Arznei habe medizinische Sichtweise, Diagnostik und Therapie von Potenzstörungen geradezu revolutioniert. Die frühere Vorstellung, hinter Erektionsproblemen stecke eine labile Psyche, gilt heute als überholt.
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"Wir haben gelernt, dass das Problem meist organisch bedingt ist", sagt die Andrologin Sabine Kliesch vom Universitätsklinikum Münster. Zwar seien viele Männer nach einem Durchhänger beim Sex psychisch verunsichert, aber: "Eine rein psychisch bedingte erektile Dysfunktion ist die Ausnahme." Acht Prozent aller Männer haben laut Kliesch Erektionsstörungen, wobei der Anteil mit zunehmendem Alter stark steigt. Betroffen ist schätzungsweise jeder dritte Mann über 60, jeder zweite über 70. Mit einem Anteil von rund 70 Prozent sind Gefäßstörungen die häufigste Ursache des Problems.
Vor zehn Jahren mussten die Betroffenen, sofern sie überhaupt medizinische Hilfe suchten, auf abenteuerliche Mittel zurückgreifen und sich etwa Potenzmittel in den Schwellkörper spritzen, auf die dann eine Erektion für ein bis drei Stunden folgte. Nun schlucken Männer eine Tablette, deren Wirkung je nach Präparat zwischen einigen Stunden und drei Tagen andauert und die nicht zwangsläufig zu einer Erektion führt.
Stimulierung nötig
Der Grund: Nur bei Stimulierung wird im Schwellkörper der Botenstoff cGMP freigesetzt. Erektionsstörungen beruhen stets auf einem cGMP-Mangel. Viagra verstärkt nicht die Bildung des Botenstoffs, sondern hemmt das Enzym PDE-5, das ihn abbaut. So hält der PDE-5-Hemmer den Botenstoff über dem Schwellenwert, der für eine Erektion erforderlich ist.
Entdeckt wurde der Wirkmechanismus durch Zufall: Der Pharmakonzern Pfizer entwickelte 1989 den Wirkstoff Sildenafil zur Therapie der koronaren Herzkrankheit. Als auffällig viele männliche Teilnehmer der Teststudien von Erektionen erzählten, erforschte Pfizer diese Nebenwirkung. Nachdem die USA bereits im Frühjahr 1998 dem Medikament die Zulassung erteilten, kam es auch in Österreich auf den Markt.
Seitdem hat das früher verschämt verschwiegene Thema die Tabuzone verlassen. "Männer gehen früher zum Arzt und reden mehr über diese Probleme", sagt Kliesch. Dazu trägt sicher die Hoffnung auf rasche Hilfe bei. Die PDE-5-Hemmer - neben Viagra die Präparate Levitra und Cialis - machen etwa 75 Prozent der Patienten wieder "beischlaffähig". "Die Mittel wirken recht zuverlässig", sagt der Hamburger Urologe Hartmut Porst. "Die meisten sind zufrieden."
Allerdings kann eine stärkere Durchblutung anderer Körperregionen vorübergehend zu Kopfschmerzen, Schwindel oder Augenproblemen führen. "Das irritiert viele Männer zunächst, wird aber später als nicht mehr so gravierend empfunden", sagt Kliesch. Wer gegen Herzprobleme Nitrat-Präparate nimmt, muss auf PDE-5-Hemmer verzichten, da eine Kombination gefährliche Nebenswirkungen hätte.
Immer noch zu teuer
PDE-5-Hemmer helfen zwar oft, aber sie heilen selten. Die meisten Patienten nehmen die Medikamente lebenslang - sofern sie es sich leisten können. Der Preis von zehn bis 15 Euro pro Pille, den die Kassen nicht erstatten, übersteigt laut Porst bei jedem dritten Patienten das Budget. Daher blüht der Schwarzmarkt via Internet. Porst: "Ich warne die Patienten davor, sie wissen nicht, was wirklich drin ist." Trotz der illegalen Konkurrenz macht sich Viagra für Pfizer bezahlt: Das Mittel erzielte dem Konzern zufolge 2007 einen weltweiten Umsatz von 1,14 Milliarden Euro.
Frühe Herz-Diagnose
Neben der Therapie der erektilen Dysfunktion haben die PDE-5-Hemmer ein zweites medizinisches Problem gebessert: Die Früherkennung der koronaren Herzerkrankung. Da die Blutgefäße im Schwellkörper noch feiner sind als die des Herzens, machen sich Ablagerungen hier am ehesten bemerkbar. Bei 20 bis 30 Prozent der Patienten, so Kliesch, seien Erektionsstörungen ein Warnsignal für drohende Herzprobleme. Daher überweist die Andrologin Patienten mit weiteren Risikofaktoren wie etwa Bluthochdruck zur Abklärung an Internisten.
Nicht nur Patienten mit Erektionsstörungen hoffen auf die Potenzpillen. Auch viele Männer ohne organische Probleme äußern den Wunsch nach einem Rezept für die Präparate. "Männer, die das als Lifestyle-Mittel wollen, haben ein Persönlichkeitsproblem", sagt der Frankfurter Sexualmediziner Hermann Berberich.
Auch ein genereller Libidomangel rührt dem Arzt zufolge oft von anderen Ursachen her - etwa einer versteckten Depression oder Schwierigkeiten in der Partnerschaft: "Diese Problematik wird in der Diskussion völlig ausgeblendet, aber wenn ein Beziehungsproblem vorliegt, lässt sich das nicht mit einer Pille lösen."