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"Wiener Zeitung:" Margaret Atwood, viele Ihrer Bücher spielen in der wilden kanadischen Natur. Jetzt aber sitzen wir in einer Bar mitten in Toronto, an einer der Hauptverkehrsadern der Stadt, draußen dröhnt der Verkehr. Sind Sie nun ein Stadt- oder ein Naturmensch? Margaret Atwood: Wie viele Kanadier bin ich eine Mischung aus beidem. Den größten Teil meiner Kindheit habe ich nomadisch verbracht, in den Wäldern oben im Norden von Québec. Mein Vater war Insektenforscher. Dort lebten wir meist vom Frühjahr bis zum Herbst, wohnten in Zelten oder Hütten, ohne Elektrizität und fließendes Wasser. Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal ein ganzes Jahr in der Schule verbrachte. Später habe ich dann sehr viel Zeit in den Straßen von Toronto zugebracht. Schauen Sie, dort liegt das Royal Ontario Museum, das ich als Kind sehr geliebt habe; schräg gegenüber das Victoria College, wo ich studiert habe. Außerdem ist das hier ein nettes Café. Früher, in den 1960er Jahren, waren Cafés aber noch anders; man bekam keinen Alkohol, aber es gab lange Jazznächte, Folkmusik, Dichterlesungen. Sie waren Zentren kultureller Unterhaltung; eher Orte der Nacht als des Tages.
Was Sie gerade über Ihre Kindheit erzählten, erinnert an die Erfahrungen des Mädchens Elaine in "Katzenauge".
Ja, Elaines Kindheit ist meiner in vieler Hinsicht ähnlich. 1946 zogen wir in ein Haus nach Toronto, da war ich sieben, aber schon als ich acht war, zogen wir wieder um. Die größte Kontinuität waren wohl wirklich jene Zeiten, in denen wir Bären, Wölfe, Eulen, Biber um uns wussten, ja sie bisweilen sogar hörten. In dieser Art von Einsamkeit, in diesem Der-Natur-Überlassensein, wuchs der Büchermensch heran. Bücher, Papier und Stifte waren immer verfügbar. Fernsehen, Radio, Theater gab es entweder nicht oder sie lagen außerhalb unserer Reichweite. Wenn es regnete, musste man lesen oder schreiben. Vermutlich stammt von daher meine Überzeugung, dass man ein Kind nur dann fürs Lesen begeistern kann, wenn man die Zeit vor dem Fernseher klar begrenzt - das habe ich dann bei meiner eigenen Tochter auch so gemacht. Bis heute führe ich ein Leben zwischen wild und gezähmt; als eine Art Nomadin vielleicht. Mein Mann (der Schriftsteller Graeme Gibson, Anm. ) und ich haben ein Blockhaus im Norden von Québec, ohne Strom und fließendes Wasser, mit Kanus vor der Tür. Ich bin in beiden Welten zuhause: ich verstehe, wie Städte funktionieren, und wie man selbst als Teil einer Stadt funktioniert. Und wenn ich im Norden bin, verstehe ich die Wildnis.
Wie verläuft Ihr Leben jetzt?
Wir reisen viel. In der Stadt nehme ich am städtischen Leben teil. Opernbesuche, Einladungen; die Ehrenpräsidentschaft im Internationalen Club für Seltene Vögel. Dann die Long-Pen-Kampagne, die ich ins Leben gerufen habe. Spätestens seit Amazon hat sich der Buchmarkt ja massiv verändert: alle wollen Bücher gleichzeitig herausbringen; jemand wie ich soll ständig zur selben Zeit überall sein. Man sitzt im Flugzeug und kommt zu nichts anderem. Vor ein paar Jahren starteten wir also diese Initiative: Der Leser sitzt an einem interaktiven Video-Bildschirm, kann mit der Autorin reden, sie sehen, sein Buch signieren lassen - statt in einer schwitzenden Warteschlange bloß meinen Kopf von oben zu sehen. Während ich, von Ort zu Ort reisen müssend, mir die Finger wundschreibe.
Ist das nicht ein weiterer Ausdruck von Anonymisierung?
Nein, es ist eine realistische Reaktion auf den aktuellen Buchmarkt, auf seine Trends und aktuellen Problemstellungen. Das viele Reisen ist teuer, unökologisch und verschleißend.
Hier spricht auch die Ökologin Margaret Atwood, Mitglied der Grünen in Kanada. Sind Sie ein politischer Mensch?
Meine eigentliche Natur ist nicht politisch, obwohl ich längst so ein Image habe. Aber es gehört nicht viel dazu zu sehen, dass alles, was uns umgibt, politische Implikationen hat. Wer hat die Macht? Das ist in allen Verhältnissen, ob privat oder politisch, die entscheidende Frage. Ausdrücklich politisch tätig werde ich, wenn es um Umweltbelange geht - die Herzenssache einer typischen Kanadierin, sozusagen. Seltsamerweise gehört das Verhalten gegenüber der Natur nicht zu den allgemein akzeptierten Standards, innerhalb derer wir uns bewegen. Ein anderes Motiv, das mich zu politischem Engagement bewegen kann, sind mangelnde Freiräume für künstlerische Arbeit.
In Ihrem neuen, vor kurzem auf Deutsch erschienenen Buch "Moralische Unordnung" erzählt uns die Ich-Erzählerin von ihrer allmorgendlichen Weigerung, sich "the bad-news-paper" - die Zeitung mit Katastrophenmeldungen - unmittelbar nach dem Aufstehen von ihrem Mann präsentieren zu lassen. Ein kleines Stück Distanz sei nämlich nötig, um das zu ertragen - auch wenn die Distanz nur in ein paar Minuten und einer Tasse Kaffee besteht.
Ja, so ist das. Diese Nachrichten treffen mich, auch wenn sie mich meist nicht überraschen. Im Gegenteil, oft bin ich erstaunt darüber, dass die Leute überrascht sind von den - doch ziemlich erwartbaren - Katastrophen. Mein Lesestoff besteht aus viel geschichtlichem Material. Dabei wird mir klar: was uns heute passiert, ist nicht neu. Das macht es freilich nicht weniger schlimm. Es reicht fast aus, Cäsar zu lesen. Ach, diese fanatischen Hauptdarsteller im politischen Spiel. Mein Lieblingsdarsteller ist übrigens Dschingis Khan. Ein sehr schlauer Bursche. Musste seinen Weg nach oben von ganz unten machen.
Meinen Sie das zynisch?
Überhaupt nicht! Es ist nur ein Blick von weiter her. Wir leben in einer Übergangszeit. Nichts ist mehr stabil. Wohin es geht, ist schwer zu sagen. Das große Thema unserer Zeit ist die Klimaveränderung. Wenn die nicht gestoppt wird, geht es irgendwann mit uns nicht mehr weiter. Es scheint mir eindeutig das bedeutsamste aller unserer Probleme zu sein. Die momentane politische Instabilität geht, glaube ich, weiter zurück als bis zum Fall des Ostblocks. 1978 scheint mir ein Schlüsseljahr zu sein: mit Afghanistan veränderte sich die Rolle der Sowjetunion; die USA kamen ins Spiel; sie unterstützten die Mujaheddin; Osama bin Laden legte los . . . damals begann die Konfrontation der muslimischen mit der westlichen Welt. 1984 lebte ich in Berlin, schrieb den Anfang vom "Report der Magd", und spürte, was in der Luft lag.
Glauben Sie an die Möglichkeit moralischen Reifens?
Wer definiert, was das ist? Spirituelle Weisheit? Pragmatischer Realitätssinn? Bereitschaft zu Selbstaufopferung und Hingabe? Die Menschen haben verschiedene Meinungen darüber, wem was zusteht. Manche finden, es sei angemessen, wenn ihnen 90 Prozent gehören und dem Rest nur 10 Prozent. Ich nehme keinerlei überraschenden Wandel der menschlichen Natur wahr. Sehr friedfertige Leute werden in der Regel keine politischen Führer.
Wann finden Sie in diesem politisch und sozial bewegten Leben Zeit zum Schreiben?
Eigentlich immer, zwischendurch. In meinem Kalender stehen Termine bis 2010. Nein, nein, so schlimm ist es auch wieder nicht. Und manchmal blockiere ich alle anderen Aktivitäten, vor allem wenn ich einen Roman schreibe. Dann habe ich Acht-Stunden-Tage nur fürs Schreiben. Gerade habe ich amüsiert und auch etwas nostalgisch wieder in die Kurzgeschichten von Henry James geschaut: Mr. Soundso hat ein bescheidenes Haus mit hübschem Garten und einer reizenden Frau. Wie bescheiden sein Anwesen ist, kann man daran erkennen, dass er nur vier Angestellte hat - lucky man! Aber wir leben heute nicht so, Mr. Soundso! Er konnte das ganze Leben seiner Arbeit widmen, kein Telefon störte ihn. So läuft´s heute nicht. Nach Unterbrechungen kann ich sofort weiterschreiben. Sonst hätte ich nie etwas zustandegebracht. Mein Problem war nie der Mangel an Ideen, sondern immer nur der Mangel an Zeit.
Sie sind vor allem Romanautorin, - aber nicht nur. Ihr Buch "Das Zelt" etwa besteht aus minimalistisch kurzen Texten.
Das ist eine Sammlung von Kurzprosa, in derselben Art wie "Gute Knochen". Man könnte es vergleichen mit ( sie lacht ) einer Schachtel Schokopralinen - alle schauen außen gleich aus, aber innen drin sind alle verschieden. Verschieden gefüllt. Mit Fabeln, Märchen, Science Fiction, Geschichte, Mythologie, vielen Dialogen, Prosagedichten.
Eine dieser Geschichten erzählt von Chicken Little, der als Einziger realisiert, dass der Himmel langsam auf die Erde stürzt, und der alle Hebel in Bewegung setzt, um das zu verhindern. Es dauert nicht lange, bis Chicken Little aus dem Weg geschafft wird. In "Moralische Unordnung" gibt es Oona, die Exfrau vom Partner der Ich-Erzählerin, die sich manipulativ und aggressiv immer wieder ins Leben der Ich-Erzählerin hineindrängt. Auch in Romanen wie "Die Räuberbraut" oder der regelrecht apokalyptischen Zukunftsfantasie "Oryx und Crake" ist die Frage nach dem Bösen zentral.
Wir haben uns in sozialen Standards eingerichtet und meinen, die Leute sollten nett zu uns sein, und wir zu ihnen. Wir dürften uns nicht aggressiv benehmen - aber das ist ja nicht die ganze Wahrheit. Aggression existiert, nur eben meist in sehr unterschwelliger, verheimlichter Form. Unsere anonyme Gesellschaft macht es möglich, dass Verbrechen geschehen, ohne dass der Täter dafür bezahlen muss. Die Frage von gesellschaftlichen Vereinbarungen ist das eine. Das andere ist das Böse selbst. Zenia, die "Räuberbraut", ist zum Beispiel so beschaffen, dass sie glaubt, jede gute Tat verdiene eine böse Antwort.
Aber trotz Zenias atemberaubender Bösartigkeit hat man nicht den Eindruck, dass in der "Räuberbraut" einfach von Opfern und Tätern erzählt wird.
Wissen Sie, was man über Hexen sagt? Sie vermögen nicht in dein Haus einzudringen, es sei denn, du lädst sie ein. Es gibt manipulative Leute, welche die Schwachstellen geradezu riechen - und die wissen, wie sie andere dazu bringen, sich abhängig zu fühlen. Ich habe von etlichen Frauen erfahren, dass sie gern wie Zenia wären - aber keine wollte sich mit einer der anderen Frauen identifizieren, obwohl die Geschichte ja aus deren Perspektive erzählt wird. Zenia hat die Macht. Die anderen hingegen sind, ja was? Opfer oder Idioten?
Sind Sie eine Moralistin?
Das ist man als Schriftstellerin immer, ob man will oder nicht. Auch wenn man in eine Geschichte keine Moral einbaut, wird der Leser sie mit einer auffüllen. Denn jeder Mensch ist grundsätzlich ein moralisches Wesen, es sei denn, er verabsäumt es, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu treffen. Es gibt solche Leute - wenn man jedoch Autor ist oder Leser, ist die Chance relativ groß, dass einem so etwas nicht passiert. Politische Führer wissen, dass ihre Entscheidungen oft den Tod von Menschen nach sich ziehen. Und machen sich dann ihre eigene Moral.
Was unterscheidet auf politischer Ebene moralisch gute von moralisch schlechten Entscheidungen?
Das Ergebnis. Manchmal ist es nur Glück, was entscheidet - es regnet, zum Beispiel. Die spanische Armada hatte Pech. Es war zu windig. Wie auch immer - klar sehen wir erst aus der Distanz.
Ihr neuer Roman ist für 2009 angekündigt, und zwar unter dem Titel "God´s Gardeners" - können Sie dazu schon etwas sagen?
Beim Schreiben eines Romans fühle ich mich wie in einem langen, dunklen Tunnel, ich habe keine Ahnung, was das Ende sein wird. Ich versuche, die Tür offen zu halten. Ich habe einmal eine Rundfrage an Schriftsteller gestellt: Wie ist es, einen neuen Roman zu beginnen? Fast alle gaben mir die Antwort: In die Geschichte hineingehen heißt so viel wie: ins Dunkle hineingehen. Eine Autorin sagte: Es ist wie in einem dunklem Raum voller Möbel, den du einrichten musst, bevor das Licht hereinfällt. Manchmal ist es ein Gang in die Unterwelt. Carlo Ginzburg spricht über die schamanische Reise: vom Hier zum Dort, vom Jetzt zum Dann. Angst ist stets eine Reisebegleiterin. Ohne sie hätte man vielleicht gar nicht die Kraft, die Reise überhaupt anzutreten.
Bernadette Conrad, geboren 1963, lebt als Journalistin in Konstanz. Schwerpunkte: Literatur- und Theaterkritik, Reisereportagen, Schriftstellergespräche.Margaret Atwood wurde 1939 in Ottawa geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit in Québec, Ottawa und Ontario und studierte später englische Sprache und Literatur in Toronto und Harvard. Ab 1964 lehrte sie und trat 1969 mit ihrem ersten Roman, "The Edible Woman" (Die essbare Frau), an die Öffentlichkeit. Mittlerweile sind über 50 Titel von ihr erschienen, vor allem Gedichtbände, aber auch Romane, Erzählbände, Essays sowie literaturwissenschaftliche Arbeiten. Einige ihrer Hauptthemen sind die gesellschaftliche Rolle der Frau, das Leben in wilder Natur, unser zerstörerischer Umgang mit dieser Natur. Margaret Atwood lebt in Toronto.Atwoods Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. So erhielt sie 2000 für den Roman "The Blind Assassin" (Der blinde Mörder) den Booker Price. 2008 wurde sie mit dem Prinz-von-Asturien-Preis, der höchsten literarischen Auszeichnung Spaniens, geehrt. Seit etlichen Jahren gilt sie für viele Literaturkritiker als Anwärterin auf den Literatur-Nobelpreis.2008 sind zwei Bücher Atwoods auf Deutsch erschienen: "Moralische Unordnung" (übersetzt von Malte Friedrich) und "Payback" (übersetzt von Bettina Abarbanell, Grete Osterwald und Brigitte Walitzek). "Moralische Unordnung" besteht aus elf Prosastücken, die - bis auf das erste - in locker chronologischer Aneinanderreihung Szenen aus einem Frauenleben erzählen, das viele Parallelen zu Atwoods eigenem aufweist. "Payback", das erst vor wenigen Wochen auf den deutschsprachigen Markt kam, ist ein Essay über das Prinzip von Schuld und Verschuldung, Ausgleich und Gerechtigkeit, auf dem unsere Gesellschaft gründet.Beide Bücher von Margaret Atwood sind im Berlin Verlag erschienen, wo auch noch weitere Werke der Autorin in deutscher Übersetzung vorliegen.