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Mariahilf, von Hanoi aus betrachtet

Von Georg Friesenbichler

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Vietnam zählt zu den Ländern mit den meisten Verkehrstoten der Welt. Dennoch würde man sich manches Verhalten auch für Wien wünschen.


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Geschätzte 80 Prozent aller Aufgaben auf Vietnams Straßen werden mit Mopeds und Kleinmotorrädern bewältigt. Damit werden nicht nur schwere und sperrige Lasten, sondern auch ganze Familien transportiert, und das in atemraubenden Kreuz-und-quer-Manövern. Wer als Fußgänger auf die andere Straßenseite gelangen will, braucht ein hohes Maß an Konzentration und Unerschrockenheit: Wichtig ist stetes Voranschreiten, ohne plötzliches Verzögern oder Beschleunigen. Denn der Verkehr scheint dem Prinzip zu folgen, das der Philosoph Heraklit in der Natur zu finden glaubte: Panta rhei - alles fließt.

Das scheinbare Chaos, in das sich auch Fahrräder, Rikschas für Touristen, öffentliche Busse und immer mehr Pkw mischen, ähnelt denn auch einer Naturgewalt, und wie die ungezähmte Natur fordert es auch viele Opfer: Mindestens 12.000 Menschen kommen in dem 90-Millionen-Einwohner-Staat jährlich ums Leben, die Dunkelziffer dürfte noch weit höher sein. Damit zählt Vietnam zu den Ländern mit den meisten Verkehrstoten, wozu allerdings das nichtstädtische Gebiet gehörig beitragen dürfte - auf den desolaten Überlandstraßen können einem auch einmal zwei Busse auf der eigenen Fahrspur entgegenkommen.

In den Städten kommt es wegen der sich überall durchzwängenden Mopeds selten zu Staus. Ausnahme ist die südliche, von japanischen Investoren geliebte Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt, besser bekannt als Saigon. Hier gibt es wegen der steigenden Zahl von Pkw meist auch für die städtischen Busse, die ohnehin nur zehn Prozent des Verkehrsaufkommens tragen, kaum noch ein Fortkommen. Ebenso wächst in der Hauptstadt Hanoi der Grad der Motorisierung, und so ähneln die Problemstellungen immer stärker denen anderer Megacitys (wie übrigens der sozialistische Staat viele kapitalistische Untugenden - inklusive einer Immobilienspekulationsblase - übernommen hat). Das Gegensteuern erfolgt langsam: Auf die Fertigstellung von geplanten U-Bahnen und Hochbahnen muss noch einige Jahre gewartet werden. Als weitere Maßnahme, die den Individualverkehr einbremsen soll, wird etwa über eine City-Maut diskutiert.

Möglicherweise neigt sich damit die Ära des fließenden Vorankommens dem Ende zu. Als Modell für "Begegnungszonen" wie in der unteren Mariahilfer Straße taugen die vietnamesischen Innenstädte aus genannten Gründen ohnehin nur wenig, obwohl der Effekt der Verkehrsberuhigung, den sich europäische Experten wünschen, etwa in Hanoi bereits verwirklicht ist: In dem Gewühl kommt man zwar stetig, aber nicht rasch voran.

In jedem Fall würde man sich einiges von der Gelassenheit, mit der sich die Vietnamesen fortbewegen, auch für Wien wünschen. Während in Vietnam selbst das ständige Hupen keinen aggressiven Vorwärtsdrang signalisiert, sondern bloß auf die eigene Existenz hinweisen will, gönnt hierzulande ein Verkehrsteilnehmer, egal, ob zu Fuß unterwegs oder im SUV, dem anderen nicht den kleinsten Vorteil. Bis sich das ändert, werden noch Generationen von Verkehrsstadträten verbraucht sein.