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Mariahilfer Straße, entwickle dich

Von Barbara Sorge

Gottfried Pirhofer am Höhenrücken der Mariahilfer Straße, die sich seit 100 Jahren in einem Zusammenspiel zwischen Ökonomie und Politik selbst entwickelt hat.
© Andreas Urban

Wachsendes Wien könnte einen neuen Strategieplan wie 2004 brauchen.


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Wien. Gottfried Pirhofer (Jahrgang 1950) ist Stadtplaner, Stadtforscher und Schriftsteller in Wien. Im Herbst erschien sein neues Buch "Maria Hilf!" (Verlag Sonderzahl). 2000 und 2004 arbeitete er an den Strategieplänen für Wien mit, der Stadtentwicklungsplan 2005 leitete sich daraus ab. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm über die Mariahilfer Straße und aktuelle Entwicklungen in der Stadtplanung.

"Wiener Zeitung": In Ihrem Buch setzen Sie sich als Stadtplaner und -forscher, aber auch als Anwohner mit der Mariahilfer Straße auseinander. Was macht diese Straße aus?Gottfried Pirhofer: Ich setze mich nicht nur mit der Mariahilfer Straße auseinander, sondern mit dem Grätzel. Die Straße hat Auswirkungen in beide Bezirke hinein. Die Mariahilfer Straße ist die größte Einkaufsstraße Österreichs, damit hat sie eine ökonomische Bedeutung. An den vier Einkaufssamstagen vor Weihnachten kommen Menschen auch aus unterschiedlichen Bundesländern und auch aus Ungarn. Das ist die eine Ebene. Die andere Ebene ist, dass die Straße eine ungewöhnliche Straßenbreite hat und eine spezielle Raumfigur ist. Sie läuft - wenn man genau schaut, sieht man es - entlang eines Höhenrückens. Sie fällt einerseits relativ steil hinab zum Wiental, andererseits relativ sanft, in einer schönen Kurve, zur Lastenstraße oder Zweierlinie oder Getreidemarkt. Sie orientiert sich nach Westen, an manchen Sommertagen entsteht ein unglaublich schönes Raumbild bei untergehender Sonne, die spannende Lichtspiele in die Straße setzt.

Was halten Sie von der Idee der Fußgängerzone?

Eine Fußgängerzone ist eine ortlose Idee, sie funktioniert zwischen New York, Kopenhagen und Hannover. Aber es ist zunächst einmal eine abstrakte, allgemeine Idee. Man muss sich sehr genau den Stadtraum anschauen, den man mit dieser Idee befassen will. Das ist in diesem Fall viel zu wenig passiert. Ich hätte mir eine anspruchsvollere Auseinandersetzung vorgestellt, die ökonomische Themen wesentlich mit einbezieht. Auch ist das Bild "The Beach" ein historisch in keinster Weise verankertes auf dieser Straße. Es wird sich erst zeigen, wie das im Winter funktionieren kann.

Müsste man die Mariahilfer Straße unter Schutz stellen?

Nein. Sie hat sich seit 100 Jahren immer wieder verändert, allmählich und teilweise in Schüben und Einschnitten. Man sollte die Potenziale, die Schwächen und die gesellschaftlichen und ökonomischen Prozesse, die in den nächsten Jahren auf sie zukommen werden, ernst nehmen und gemeinsam eine Politik der Straße finden.

Soll man sie sich selbst entwickeln lassen?

Ja, im Wesentlichen ist die Stärke der Mariahilfer Straße genau so etwas wie eine Selbstentwicklung, die historisch gesehen in einem hervorragenden Zusammenspiel zwischen Ökonomie und Politik funktioniert hat. Der große Einbruch der Mariahilfer Straße war nach dem Ersten Weltkrieg. Im kleinen, isolierten Wien war sie nicht mehr die Hauptstraße der Monarchie. Da war der Mieterschutz ein großer Glücksfall, der für Kleinunternehmer und Geschäftsleute leistbare Mieten bedeutete. Nutzungen, die sonst radikal zusammengebrochen und verdrängt worden wären, sind so erhalten geblieben. In diesem Sinn wäre es wichtig, sich zu überlegen, wie man sehr spezifisch wienerische Nutzungen erhalten kann. Das wäre für mich ein viel entscheidenderes Thema als die Fußgängerzone. Das zweite wunderbare Zusammenspiel zwischen Politik und Ökonomie war der U-Bahn-Bau. Die hochrangige Erreichbarkeit hat zu einer massiven Aufwertung der Mariahilfer Straße geführt. Meine Grundsatzempfehlung für die Planung wäre, möglichst immer Synergien zu suchen.

Sie haben an den Strategieplänen 2000 und 2004 mitgearbeitet, die eine Grundlage für den Stadtentwicklungsplan waren. Wie sehen Sie die Entwicklung in der Stadtplanung?

Das sind zwei Ebenen. Im Strategieplan war die räumliche Ebene nur eine Dimension. Der Strategieplan ist der Versuch einer Gesamtorientierung für Wien, inklusive Wirtschaft, Sozialem, Kultur, Wissenschaft, also Themen, die im Wesentlichen nicht räumlich sind, auch wenn sie dann im Räumlichen gewisse Auswirkungen haben. Der Stadtentwicklungsplan bezieht sich auf die räumliche Ebene.

Seit 2004 gibt es keinen neuen Strategieplan mehr. Fehlt Ihnen damit etwas in der Diskussion um die Stadtentwicklung?

In Zeiten eines, zumindest laut Trends und Prognosen, erstmals seit einem Jahrhundert wieder deutlich einwohnermäßig wachsenden Wien wäre es genau die Zeit für einen Strategieplan: Wie strukturiert, finanziert, verteilt, organisiert man das Wachstum? Zur Stadtplanung denke ich, dass man vor allem im bebauten Stadtgebiet, aber auch in der äußeren Stadtentwicklung eine Zwischenebene brauchen würde. Diese sollte zwischen den großen Linien des Stadtentwicklungsplans auf der einen Seite und der Flächenwidmungs- und Bebauungsplanung beziehungsweise den einzelnen Projekten auf der anderen Seite angesiedelt sein und sich Raumfiguren, Raumstrukturen, Möglichkeiten, Schützenswertes genauer anschauen. Beim letzten Stadtentwicklungsplan gab es 13 Zielgebiete, die aber wenige Prozent des gesamten Wiener Stadtraums abgedeckt haben. Es ist wichtig, dass man Zielgebiete hat, wo man genauer hinschaut, aber was ist mit dem großen Rest dazwischen. Da wäre einiges zu tun, vielleicht in Richtung Bezirksentwicklungspläne, aber auch bezirksgrenzüberschreitend.

Was ist in Wien besonders schützenswert?

Das ist in der Kürze schwer zu sagen. Klar ist, dass Stadt Veränderung ist. Man kann nicht Stadt sistieren, man darf auch nicht in die Falle gehen, zu starr zu denken, das ist dann keine lebendige Stadt mehr. Aber es ist schon so, dass Wien im Image, in der Identität, aber auch in der Alltagswahrnehmung sehr stark - in den dicht bebauten Gebieten jedenfalls - von Qualitäten lebt, die aus der Spätgründerzeit oder in Resten von noch älteren Strukturen kommen. Und da gilt die banale Formel: Was weg ist, ist weg. Bevor man historische Qualitäten aufgibt und sie oft durch nicht bessere Substanz und Strukturen ersetzt, sollte man sehr genau schauen, ob es wirklich notwendig ist und Sinn macht, alte Strukturen zu opfern. Das gilt im Besonderen für Nutzungsmischung. Dafür sind die Häuser der Gründerzeit bekannt. Derselbe Grundriss kann einmal eine Wohnung sein, einmal eine Arztpraxis. Die Erdgeschoßzonen sind im Allgemeinen - wenn auch nicht durchgehend - urban nutzbar, kommerziell oder für andere öffentliche Nutzungen. All das fehlt meistens dem Neubau. Er ist häufig monofunktional. Wenn man in alte Strukturen reingeht, sollte man auch im Sinne von Nachhaltigkeit und längerfristiger Haltbarkeit sehr genau solche Qualitäten anschauen und möglichst versuchen, neu zu produzieren.