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Maritime Sehnsüchte

Von Peter Payer

Reflexionen

Leuchttürme erfüllen eine wichtige nautische und eine starke symbolische Funktion. Wien hegt eine ganz besondere Beziehung zu diesem Licht der Nacht.


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Fast scheint es, als wäre er immer schon da gewesen: der Leuchtturm auf der Wiener Donauinsel, nahe der Reichsbrücke. Der runde weiße Turm mit Außentreppe reckt sich mächtig in die Höhe, rundherum viel Wasser und Himmel, perfekte Ingredienzien für ein weithin sichtbares Bauwerk, das zum Wahrzeichen für das von Einheimischen wie Touristen gerne besuchte Freizeitareal "Sunken City" geworden ist. Palmen, Strand und Liegestühle verbreiten das passende exotische Flair. - Wenngleich: richtiger Leuchtturm ist das natürlich keiner. Von der Spitze zieht kein Scheinwerfer seine Kreise durch die Nacht, einen Leuchtturmwärter wird man auch vergeblich suchen, ja man darf den Turm nicht einmal besteigen.

Und doch erfreut uns diese maritime Illusion, die bereits an ihrem Ursprungsort eine solche war. Denn der Leuchtturm stand einst am Bodensee, wurde für die Saison 1989/90 als Kulisse der Bregenzer Festspielbühne errichtet (Szenenbild für den "Fliegenden Holländer"). Nach der Spielzeit wurde er 1991 in Wien vor dem Technischen Museum anlässlich der Ausstellung "Phantasie und Industrie" neu aufgebaut. Der Umbau des Museums bedingte sechs Jahre später seine erneute Verlegung, diesmal auf die Donauinsel. Eine mitteleuropäische Metropole, fernab jeden Meeres gelegen, erhielt so - für ständig und auf recht kuriose Weise - einen Leuchtturm! Ein Blick in die Geschichte enthüllt, dass dies gar nicht so paradox und in gewisser Weise durchaus stimmig sein kann. Denn für Wien ist es nicht die erste Bekanntschaft mit diesem für die Seefahrt so überlebenswichtigen Nachtzeichen.

Weltausstellung 1873

Wiener Weltausstellung 1873: Österreichische Seeleuchte mit Semaphor und Nebelsignal.
© Michael Frankenstein © Technisches Museum Wien/Bildarchiv

Schon 1873, anlässlich der Weltausstellung im Prater, wurden als Novität zwei Leuchttürme gezeigt. Der eine befand sich beim Westeingang, war ganz aus Beton gefertigt und beachtliche 21 Meter hoch. Seine Spitze zierte eine Laterne, welche Teile des Ausstellungsgeländes tageshell erleuchten sollte, mit damals noch neuem elektrischen Licht und vorerst probeweise. Den Besuchern wurde der Zweck solcher Bauwerke ausführlich erklärt. In den Zeitungen wies man auf deren zentrale Orientierungsfunktion hin und ironisierte, dass sie nun in Wien "den spät heimkehrenden Bummlern als Leitstern dienen und in ihrer Art auch eine hohe Mission erfüllen".

Der zweite Leuchtturm war im östlichen Ausstellungsbereich situiert, am Ufer des Heustadelwassers. Hier präsentierte die Triester Seebehörde neben dem Marine-Pavillon ein ganzes Ensemble an für die Schifffahrt überlebenswichtigen Warnzeichen: eine Seeleuchte mit Semaphor (Signalmast) und Nebelhorn. Der von einem achteckigen Unterbau in eine Höhe von 18 Meter emporragende Leuchtturm wies oben eine rotierende Laterne auf. Diese enthielt mehrere Petroleumlampen sowie ein komplexes System an Spiegeln und Reflektoren, die das Licht, wie man stolz vermerkte, "auf eine Entfernung von 17 Seemeilen hinausschleudern". Über eine Wendeltreppe in seinem Inneren konnte man eine rundumlaufende Galerie erreichen, dort technische Details studieren und den Blick von oben auf die Umgebung genießen.

Der von einer Pariser Firma hergestellte Leuchtturm war an der österreichischen Adriaküste der am weitesten verbreitete Bautyp. Die beachtliche Anzahl dieser Anlagen sollte sich, so die allgemeine Überzeugung, noch erhöhen, bis "die ganze bewohnte Küste mit einem strahlenden Gürtel umspannt ist". Auch Julius Rodenberg, renommierter Berliner Journalist, der für die "Neue Freie Presse" von der Weltausstellung berichtete, war vom Anblick dieses Leuchtturms entzückt. Und vom kuriosen Ambiente überrascht, war doch das Heustadelwasser völlig ausgetrocknet, als er über eine Brücke auf das Bauwerk zuging: "Unter mir war nichts als Kiesel und Sand und vor mir stand der Leuchtthurm, in dessen gläsernem Dach die Mittagssonne reflectierte. Wundersam ward mir zu Muth."

Bezugsort Triest

Weniger Begeisterung rief das am Fuß des Leuchtturms installierte Nebelhorn hervor. Seine kräftigen, von einer Dampfmaschine erzeugten Töne signalisierten täglich den Schluss der Ausstellung. Die drei langgezogenen, weithin vernehmbaren Signale wirkten teils "wahrhaft erschreckend"; speziell die Musiker und Zuhörer der allabendlich konzertierenden Weltausstellungskapelle fühlten sich massiv gestört.

Die Besonderheiten des Leuchtturms gingen ein ins kollektive Bewusstsein, Satire-Zeitungen genossen dankbar neue metaphorische Möglichkeiten. So ätzte das humoristische Wochenblatt "Figaro", als Diskussionen über die Nachnutzung der Ausstellungsbauten aufkamen: "Der Leuchtthurm soll den Mitgliedern der gemeinderäthlichen Wohnungsnoth-Kommission als Berathungslokal überlassen werden, damit denselben endlich einmal ein Licht aufgehe."

Technischer wie auch mentaler Bezugsort für alle in Wien erörterten Leuchtturm-Fragen war ganz selbstverständlich Triest, Österreichs wichtigster Seehafen. Seit dem 14. Jahrhundert zur Habsburgermonarchie gehörig, fungierte die Stadt als bedeutendes Handelszentrum und Stützpunkt der Kriegsmarine. Als Sitz der Zentralseebehörde erlebte Triest vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen gewaltigen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Seit 1833 stand ein Leuchtturm im Hafen der Stadt. Die sogenannte Lanterna war bei Inbetriebnahme das einzige Lichtsignal am Golf von Triest mit einer Reichweite von 16 Seemeilen. Das knapp 38 Meter hohe Bauwerk war Teil der Stadtbefestigung - mit entsprechend dicken Mauern und Schießscharten. Ein unübersehbares Zeichen, nicht zuletzt für die Macht und Stärke Österreichs.

Nach dem Ende der Monarchie erhielt die Lanterna Konkurrenz. 1927 wurde genau vis-à-vis ein neuer Leuchtturm errichtet. Der Faro della Vittoria mit einer gigantischen Höhe von 69 Metern war aber nicht nur als Navigationshilfe konzipiert, sondern auch als Denkmal für die gefallenen Marinesoldaten. Die riesige bronzene Siegesstatue an seiner Spitze ist ein weithin sichtbares Symbol, diesmal für den Staat Italien, für den Anschluss Triests an das italienische Königreich. Der alte Leuchtturm blieb bis 1969 in Verwendung und dient heute als Hafenbeleuchtung.

Literarischer Experte

Bei einer derartigen Vergangenheit ist es kein Zufall, dass der führende literarische Experte für Leuchttürme aus Triest stammt. Paolo Rumiz, renommierter italienischer Journalist und Reiseschriftsteller, verfasste eine tiefsinnige Reportage mit dem Titel "Der Leuchtturm" (Folio, 2017).

Darin beschreibt er seine persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen während eines mehrmonatigen Aufenthalts in solch einem Turm auf einer nicht näher bezeichneten Mittelmeerinsel: Leidenschaftlich schildert er die zunehmende Intensität der Wahrnehmung, die unterschiedlichsten Winde und Geräusche des Meeres, das Neuerleben der Nacht und die Wiederentdeckung der Sterne, das sich verändernde Zeitgefühl, kurzum: die existenzielle Bedingtheit des Menschen: "Die Begegnung mit einem Leuchtturm hat etwas Wundersames. Man sucht ihn, man ruft ihn, man weiß, dass er einen erwartet, dann sieht man einen Schein, und erst nach einigen Minuten sieht man den Lichtpunkt mit seiner genauen Blinkfrequenz. Dann jubelt man und sagt sich: Ich habe dich gefunden! Es ist eine Art Komplizenschaft, eine tiefe Freundschaft.

Doch zurück nach Wien, wo sich die Welt des Maritimen nach der Großausstellung weiterhin im Stadtbild manifestierte. Man denke etwa an das monumentale, 1886 errichtete Tegetthoff-Denkmal am Praterstern, den 1895 eröffneten Themenpark "Venedig in Wien" oder die vielbesuchte
"Adria-Ausstellung" von 1913.

Leuchtturmdes Kaufhauses Gerngroß, Werbekarte, um 1930.
© Sammlung Peter Payer

Ein Leuchtturm in Betrieb sollte erst wieder in der Zwischenkriegszeit auftauchen - diesmal ausschließlich für Reklamezwecke und überaus spektakulär. Das Warenhaus Gerngroß, Wiens größtes Kaufhaus, brachte 1926 am Dach seines Eckgebäudes in der Mariahilfer Straße eine neue Lichtreklame an: ein turmartiges Metallgerüst, auf dem der Firmenname in vertikalen Großbuchstaben prangte sowie an der Spitze ein im Kreis rotierender Hochleistungs-Scheinwerfer - der jede Nacht einen "milchweißen Strahl" über die Dächer der Stadt sandte.

Reklame-Leuchtturm

Ein eindrucksvolles Firmenwahrzeichen war entstanden und ein besonderes Werbemittel, wie der Reklameexperte Justinian Frisch betonte, beweise doch, "daß es eine starke Propaganda ohne Worte gibt. Die Schöpfer dieser Idee wußten, daß jeder, der den hellen Streifen über den Nachthimmel gleiten sieht, denkt oder auch ausspricht: ‚Der Scheinwerfer vom Gerngroß‘. Es ist eine außerordentlich wirksame Form der Popularisierung eines Unternehmens."

Nicht nur für Gerngroß, für ganz Wien avancierte der scheinwerferbestückte Leuchtturm zum nächtlichen Wahrzeichen. Die zunehmende Elektrifizierung der Stadt hatte die Straßen und Plätze in ein neues Licht getaucht, die öffentliche Beleuchtung schritt rasant voran; immer mehr Leuchtreklamen zierten die Dächer und Fassaden der Gebäude. Wiens Nächte wurden in den 1930er Jahren deutlich heller, lichtmäßig vielfältiger und bunter. Der Leuchtturm thronte gleichsam als König über all den funkelnden Preziosen der Stadt.

Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs brachten diese wie auch andere Leuchtikonen zum Erlöschen. Es dauerte knapp fünfzig Jahre, bis sich der Leuchtturm-Gedanke erneut in der Stadt manifestierte. Welchen Kräften dies letztlich zuzuschreiben ist, darauf gibt Paolo Rumiz eine mögliche Antwort, hat er doch den Leuchtturm als "Kathedrale" erfahren, als herausragenden "Ort der Beschwörung". Vielleicht ist es genau diese Sehnsucht nach dem alten Leuchtturm, den das imperiale Wien einst in Triest verlor, die mit der Aufstellung eines neuen Turms auf der Donauinsel erfüllt wurde. Wien ist endlich wieder komplett geworden!

Peter Payer ist Historiker, Stadtforscher und Kurator im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt u.a. "Der Klang der Großstadt. Eine Geschichte des Hörens. Wien 1850–1914" (Böhlau, 2018).