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"Märkte mussten uns erinnern, dass wir eine Währung teilen"

Von Hermann Sileitsch aus Brüssel

Europaarchiv

Europa muss enger zusammenrücken, aber die Bürger legen sich quer.


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Brüssel. Die Krise hat ihr nächstes Stadium der Eskalation erreicht. Was 2007 als eine Immobilienkrise in den USA begann, wuchs sich binnen weniger Jahre zur globalen Finanz- und Schuldenkrise aus. Vor gut einem Jahr hat die Krise abermals ihr Gesicht verändert und politische Dimensionen erreicht: Bereits neun europäische Regierungen sind darüber gestürzt. Europaweit sind die Bürger immer weniger gewillt, die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung mitzutragen - und rächen sich mit Denkzettel-Wahlen. Wie in Griechenland. Was nützen aber alle Rettungsbemühungen auf EU-Ebene, wenn die Bevölkerung sie nicht länger mitträgt?

Die Europäische Kommission weist Kritik von sich, sie sei für diese Reaktionen mitverantwortlich: "Natürlich ist das für uns ein Anlass zur Sorge", sagt Maros Sefcovic, Vizepräsident der Europäischen Kommission, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Aber Sie müssen sich genau anschauen, wogegen die Bürger wirklich stimmen." Der Grad der Frustration sei zweifellos gestiegen, und es gebe mehr Wechselwähler als zuvor. Den Schaden müsse aber ganz Europa tragen, weil politische Instabilität schädlich für den weiteren Fortschritt sei.

Noch enger zusammenrücken
Alle Experten sind sich einig, dass die europäische Integration weiter gehen muss als bisher, damit die Schuldenkrise gelöst werden kann. Das bedeutet, die Mitgliedstaaten (insbesondere der Währungsunion) müssen noch enger zusammenrücken, ihre Wirtschaft besser koordinieren und womöglich weitere nationale Vorrechte und Budgetentscheidungen nach Brüssel übertragen. Wie aber soll das politisch funktionieren, wenn der Wille zur Zusammenarbeit verloren geht?

Sefcovic weist auf das Erreichte hin. "Wenn mir jemand vor nur eineinhalb Jahren erzählt hätte, dass wir zusammensitzen und über den deutschen Budgetentwurf beraten werden, hätte ich das für völlig unrealistisch gehalten", sagt der Slowake. Um zu verstehen, warum die EU sich in der Reaktion auf die Krise so langsam bewegt habe, müsse man bis zum Lissabon-Vertrag zurückgehen. Als dieser nach jahrelangen Verhandlungen über die Rolle der Institutionen im Dezember 2009 in Kraft trat und etwa dem Europäischen Parlament mehr Macht gab, war das ein Meilenstein an europäischer Integration.

Erst der Druck der Krise brachte Prozess in Gang
"Damals waren alle überrascht, dass es tatsächlich geschehen ist. Sofort sind Diskussionen losgebrochen, ob die Integration nicht zu weit geht und nationalen Verfassungen widerspricht. Deshalb wurden enge Grenzen abgesteckt." Diese Sorge habe dazu geführt, dass es schwierig war, Rettungsaktionen - wie für Griechenland - zu organisieren. Deshalb galten zunächst bilaterale Verträge zwischen den Ländern und außerhalb der EU-Institutionen als die Lösung.

"Es hat die Finanzmärkte gebraucht, um uns daran zu erinnern, dass wir uns eine Währung teilen", sagt Sefcovic heute. Erst unter dem Druck der Krise kam der weitere EU-Prozess mit vertiefter Budgetkontrolle, der Schaffung eines Rettungsschirms und dauerhaften Stabilitätsmechanismus und der Koordination der Wirtschaftsprogramme in Gang. Die Kommission konnte dabei bei nur "auf Überzeugungskraft" setzen und Lösungen vorschlagen. Mittlerweile habe sich die Atmosphäre unter den Mitgliedstaaten spürbar verändert: "Es gibt eine große Bereitschaft, viel schärfer miteinander ins Gericht zu gehen. Dass schwarze Schafe tatsächlich genannt werden, ist neu." Sefcovic ist überzeugt, dass der Zug noch weiter fahren wird. Er sieht nun neues Momentum für eine Finanztransaktionssteuer.

Es gebe seit geraumer Zeit viele Vorschläge, wie das Wachstum verstärkt werden könnte: Großes Potenzial liege in der besseren Nutzung des Binnenmarktes. Alleine die Umsetzung der Dienstleistungs-Richtlinie, wo Österreich gemeinsam mit Deutschland und Griechenland säumig war, könnte laut Sefcovic 1,8 Prozentpunkte zur Wirtschaftsleistung beitragen. Weitere offene Punkte seien die Digitale Agenda (Förderung von Internet, Onlinehandel, Telekommunikation) sowie billigere und einfachere EU-Patente. Kurzfristige Investitionsimpulse sollen von der Europäischen Investitionsbank und "Projekt-Anleihen" kommen: Dabei unterstützt die EU private Investitionen in große Infrastruktur-Projekte wie Transport-, IT- und Energienetze.

Am Ende Eurobonds
Am Ende werde seiner Überzeugung nach auch eine Form von gemeinsam begebenen "Stabilitäts-Anleihen" (Eurobonds) stehen. Das bedeutet, dass die Schuldenaufnahme der Mitgliedstaaten künftig gemeinsam erfolgen sollte - etwas, das die solideren Länder wie Deutschland, Niederlande und Österreich bisher strikt ablehnen. "Es gibt drei Vorschläge, welche die Kommission auf den Tisch gelegt hat. Nun liegt es an uns, ein konkretes Modell zu entwickeln, das Akzeptanz finden könnte." Laut Experten wird es noch viele vorbereitende Schritte brauchen - etwa ein europäisches Finanzministerium. Sefcovic lässt offen, wie lange es dauern könnte und welche Zwischenstadien nötig wären.

Wie aber sollen die enormen politischen Hürden überwunden werden? Der slowakische Kommissar sieht die Verantwortung auch auf nationaler Ebene. "Wir müssen das Spiel mit den Schuldzuweisungen beenden: Alles Schlechte kommt aus Brüssel, alles Gute von den nationalen Regierungen. So wird es gerne dargestellt. Dabei wird aber vergessen, dass die Kommission nur das Vorschlagsrecht für Gesetze hat, diese aber ein Jahr lang in der Gruppe der Staats- und Regierungschefs diskutiert werden."

Es gebe Berechnungen, wonach jeder Bürger in den exportstarken Niederlanden mit 2000 Euro pro Kopf und Jahr von der Mitgliedschaft in der EU profitiere. Die Kosten beliefen sich hingegen nur auf 200 Euro. "Der Return ist also ziemlich hoch, aber darüber diskutiert niemand." Für Österreich würde die Rechnung nicht viel anders aussehen: "Sie haben in Österreich enorm von der EU-Erweiterung nach Osteuropa profitiert. Darüber wird aber nicht gerne gesprochen, weil es einfacher ist, auf die Probleme hinzuzeigen."

Im globalen Wettstreit könne Europa nur eine Rolle spielen, wenn es gemeinsam und mit einer Stimme auftrete. "Wir vergessen gerne, dass wir der größte Wirtschaftsraum sind. Wenn wir nur streiten, geben wir ein lächerliches Bild ab und untergraben unsere eigene Bedeutung."

Zur Person: Maros Sefcovic wurde 1966 in Bratislava geboren. Nach einer Diplomaten-Karriere mit etlichen Stationen wurde er 2004 slowakischer EU-Botschafter, 2009 Bildungskommissar und ab Februar 2010 Vizepräsident mit Zuständigkeit für interinstitutionelle Beziehungen und Verwaltung.