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"Märkte werden uns angreifen"

Von Alexander U. Mathé aus Frankreich

Politik
Einen skeptischen Blick auf sein Land wirft der Wirtschaftsexperte Nicolas Baverez.

Buchautor macht sich Sorgen um Frankreichs Wirtschaft und Gesellschaft.


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"Wiener Zeitung": 2003 wurden Sie mit dem Buch "La France qui tombe" (Frankreich im Verfall) bekannt. Wie tief ist Frankreich bis 2012 gefallen?Nicolas Baverez: Der Niedergang Frankreichs hat sich leider nicht nur bestätigt, sondern auch noch beschleunigt. Das Wirtschaftswachstum hat konstant abgenommen. Bei der Wettbewerbsfähigkeit ist Frankreich mit 70 Milliarden Euro Handelsdefizit negativer Rekordhalter in der Eurozone. Frankreichs Exportanteil innerhalb der Eurozone ist von 18 Prozent im Jahr 1990 auf heute 12,5 Prozent gesunken. Nur noch etwa 90.000 französische Firmen exportieren. Es gibt nur noch 4195 Firmen mit mehr als 250 Angestellten und 185 mit mehr als 100.000. Kurz: Produktivitätsapparat und Wettbewerbsfähigkeit sind zusammengeschrumpft.

Was die öffentlichen Finanzen betrifft: Frankreich wird heuer eine Staatsschuld von 90 Prozent des BIP haben, was sich nachweislich negativ auf die ökonomische Aktivität und die Jobs auswirkt. Die Arbeitslosigkeit wird wieder mehr als 10 Prozent betragen. Gleichzeitig sehen wir auf Regierungsebene, dass die Politik unfähig ist, die Reformen durchzusetzen, die nötig wären, um das Wirtschaftsmodell zu ändern.

Eine düstere Ausgangslage, was schließen Sie daraus?

Frankreich ist der kranke Mann der Eurozone. Die Ursache ist im Gegensatz zu vielen anderen europäischen oder entwickelten Staaten aber nicht in der Krise 2007/2008 zu suchen, sondern im Wirtschaftsmodell, das Frankreich seit drei Jahrzehnten hat. Es stützt sich auf ein Wirtschaftswachstum, das abnimmt, es basiert auf Konsum, dem einzigen aktiven Vektor. Die Investitionen hingegen liegen komplett darnieder, die Exporte gehen zurück. Der Konsum wiederum wird durch Umverteilung, die derzeit 33 Prozent des BIP ausmacht, und mittels Staatsschuld finanziert.

Wir wissen, dass dieses Modell heute tot ist. Um es trotzdem am Leben zu halten, werden öffentliche Ausgaben von 56,6 Prozent des BIP getätigt, während die öffentlichen Einnahmen bei 49 Prozent liegen. Das ist praktisch Weltrekord unter den Industrieländern. Die Zunahme der öffentlichen Ausgaben lässt den privaten Sektor zugrunde gehen, der nur noch 43 Prozent des BIP ausmacht. Das Zusammenschrumpfen der Marktaktivität nährt die soziale Unsicherheit, die wiederum die Rufe nach noch mehr Schutz und öffentlichen Ausgaben und Belastungen laut werden lässt. Das ist ein Teufelskreis, der zur Euthanasie des Wirtschaftswachstums führt, zur Ausdehnung des öffentlichen Sektors und zum Zusammenschrumpfen des privaten Sektors - eine Situation, in der sich Großbritannien in den 1970ern befunden hat.

Und wie ist es auf sozialer Ebene?

Es zerreißt Frankreich mehr und mehr. Es gibt ein Frankreich, das sich in der Globalisierung durchsetzt, ein Frankreich der Centres of Excellence - auch im öffentlichen Sektor. Es gibt ein großes Frankreich des geschützten Sektors, aber auch ein Frankreich der sechs Millionen Ausgeschlossenen. Menschen, die komplett marginalisiert sind, die nur noch von staatlicher Fürsorge leben und außerhalb von Arbeitsmarkt und Gesellschaft stehen. Das drückt sehr stark auf den Zusammenhalt der Nation, die gerade auseinanderbricht.

Von daher kommt auch das Drängen hin zum Extremismus, den wir sowohl bei der Front National als auch bei der Linksfront und den anderen linksextremen Parteien, zu denen auch die Grünen gehören, sehen. Die Summe dieser politischen Faktoren ergibt ein Land, dessen Bedeutung in der Welt und in Europa abnimmt.

Deutschland und Frankreich spielen nicht mehr in derselben Liga. Frankreich hat in der Finanzwelt sein Triple-A verloren. Deutschland hingegen ist die Wiedervereinigung gelungen, auch wenn es dafür noch eine Generation braucht. Deutschland hat Wirtschaftswachstum, die Staatsverschuldung von 80 Prozent des BIP ist dank einem Budgetdefizit von 1 Prozent des BIP unter Kontrolle, die Arbeitslosigkeit ist von 12 auf 6 Prozent gesunken, die Exporte haben einen Wert von 1,06 Billionen Euro, der Handelsüberschuss beträgt 158 Milliarden Euro, das Triple-A ist absolut solide. Es ist klar, dass Deutschland die alleinige Führung über Kontinentaleuropa und die Eurozone übernommen hat. Es ist in einer Kategorie, der Frankreich nicht mehr angehört - und das ist ein großer Schock.

Sollte Frankreich vielleicht das deutsche Modell übernehmen?

Nein. Erstens kann man Länder nicht von außen reformieren, zweitens passen die deutschen Strukturen ganz und gar nicht zu Frankreich. Deutschlands Industrie macht 33 Prozent der Wertschöpfung aus, in Frankreich sind es 14 Prozent. Das deutsche System ist föderal und auf Kompromiss ausgelegt, das französische ist zentralistisch und auf Konfrontation ausgerichtet. Deutsche Firmen funktionieren mit einer gemeinsamen Führung und haben starke Gewerkschaften, die aber kooperativ sind, Frankreich hat eine schwache Gewerkschaft, die aber noch vom Klassenkampf lebt. Diese Strukturen sind fundamental und können nicht dupliziert werden. Frankreich muss seine eigene Stimme in der Welt des 21. Jahrhunderts finden.

Es finden sich aber in den Programmen Nicolas Sarkozys und François Hollandes keine Vorschläge für entsprechende Reformen . . .

Das ist das Drama: Frankreich war seit den 1930ern noch nie so schwach und verwundbar. Es hat noch nie die Wirtschaftswelt, in der es lebt, so schlecht verstanden. Die Kampagnen haben die Probleme, die wir angesprochen haben, nicht einmal gestreift.

Stattdessen war der Wahlkampf von Demagogie geprägt und hat sich hauptsächlich auf Gleichheit und finanziellen Ausgleich konzentriert. In dem Punkt sind beide Kampagnen eigentlich ziemlich symmetrisch: Was Hollandes 75-prozentiger Spitzensteuersatz ist, sind Sarkozys Steuerflüchtlinge. Sie bedienen bloß die eigene Klientel und behandeln einzelne Fragen demagogisch, ohne ein umfassendes Projekt zu haben. Das ist das Erstaunliche: Egal, was man über die Wahlkämpfe in England, Portugal oder Spanien denkt, dort wurde wenigstens über die wahren Probleme gesprochen. Selbst im griechischen Wahlkampf geht es um die Handhabung der Krise, auch wenn es auch dort Demagogie gibt. Auch im deutschen Wahlkampf wird es sicher um wahre Projekte für Deutschland gehen, aber nicht im französischen. Dabei ist ganz Europa gefährdet.

Können Sie das näher ausführen?

Seit 10. April gibt es zwei Zielscheiben für die Märkte: Spanien und Frankreich - und das wird der Kern des nächsten Schocks der Eurozone sein. Zum ersten Mal findet die französische Wahl unter Beobachtung der Märkte statt. Wenn Hollande gewinnt, wird das nicht so sein wie 1981 bei Mitterrand. Der hatte damals zwei Jahre Zeit, um seine Politik durchzusetzen. Diesmal wird keine Zeit für ein Programm des Neustarts sein, denn die Märkte sanktionieren sofort. Frankreich ist ein Risiko für ganz Europa. Es hat 1,7 Billionen Euro Schulden, das ist zwar ein bisschen weniger als Italien, aber es ist definitiv mehr als der 800-Milliarden-Euro-
Rettungsschirm der EU. Griechenland hat mit seinen 300 Milliarden ausgereicht, um ganz Europa anzustecken. Ein starker Schlag auf die französische Staatsschuld wird jeden in Europa treffen.

Europa wiederum dient allen Kandidaten, auch Sarkozy, als Sündenbock. Es gibt jene, die aus dem Euro austreten wollen, jene, die aus Schengen austreten wollen, und jene, die aus dem europäischen Fiskalpakt austreten wollen. Europa wird wie eine Fessel gesehen, von der man sich befreien muss. Dabei könnte Frankreich nie allein einen Angriff auf seine Staatsschuld aushalten. Und statt an europäische Integration zu denken - womit man immerhin den Euro retten könnte -, geht man den entgegengesetzten Weg. Die Analysten haben klar gezeigt, dass es keine dauerhafte optimale Geldzone geben kann ohne Wirtschaftsregierung, finanzielle Solidarität und budgetäres Verantwortungsbewusstsein.

Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass die Märkte tatsächlich Frankreich angreifen werden?

Für mich ist das kein Risiko, sondern Gewissheit. Und es wird immer schlimmer werden. Zwischen den Präsidentschaftswahlen, den Parlamentswahlen, der Implementierung der neuen Regierung und der neuen Finanzgesetzgebung im Oktober gibt es für die Märkte ausreichend Gelegenheit zu reagieren. Der Druck auf die Staatsschuld hat schon begonnen. Das Auseinanderklaffen zwischen Deutschland und Frankreich nimmt bereits bedeutsam zu. Aber das ist erst der Anfang, der Verlust des Triple-A ist nur ein Anfang. Frankreich befindet sich auf einer Rutschbahn, und die Fallgeschwindigkeit wird zunehmen, wenn es nicht ernste Änderungen gibt.

Was wären die ersten Schritte, die der neue französische Präsident setzen müsste, um einen Angriff der Märkte abzuwehren?

Er müsste die großen Probleme behandeln. Zuerst einmal die Produktion: Auf keinen Fall können wir weiter die Steuern erhöhen. Die französischen Unternehmen sind die am höchsten besteuerten in der ganzen Eurozone. Es ist erschütternd, wie viele Firmen in Konkurs gehen. Man müsste die Arbeitskosten reduzieren, die fiskalen Maßnahmen für alle Unternehmen einfrieren und die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Kapital müsste auf die Unternehmen ausgerichtet werden, in Bildung und Recherche investiert werden.

Dann müsste Frankreich ein Zeichen setzen und seine öffentlichen Ausgaben reduzieren, was es bisher noch nie getan hat. Die Ausgaben, zumal die sozialen Ausgaben, müssten reduziert werden. Aber man müsste Ausnahmen für die produktive Investition schaffen, also für Arbeitssuche und Innovation. Was die Arbeitslosigkeit betrifft, so müsste man den Markt flexibilisieren.

Zur Person

"Sechs Millionen Franzosen stehen außerhalb von Arbeitsmarkt und Gesellschaft."

"Deutschland hat
die alleinige Führung in der Eurozone übernommen."

"Frankreich ist der kranke Mann der Eurozone."

Nicolas Baverez ist Anwalt, Wirtschaftsexperte, Soziologe und Historiker. Der Absolvent der französischen Kaderschmieden École Nationale d’Administration und École Normale Superieur wurde durch sein Buch "La France qui tombe" (Frankreich im Verfall) bekannt.