Zu viel Grundlagenforschung in Europa, zu wenig verwertbare Ergebnisse.
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Ronald "Ronnie" Hall ist so etwas wie der Prototyp des unbekannten Eurokraten - im positiven Sinn. Während man sein Gesicht selten in der Öffentlichkeit zu sehen bekommt, hat er als Chefberater der EU-Kommission für Regionalentwicklung eine kaum zu unterschätzende Schlüsselposition inne. Der gebürtige Belfaster, der unter anderem auch bis heute an den Friedensverhandlungen für Nordirland beteiligt ist, arbeitet seit 1989 in Brüssel. Das Gespräch mit Hall fand im Rahmen einer von der Austrian Marshall Plan Foundation an der University of New Orleans organisierten Konferenz zum Thema Regionalentwicklung statt.
"Wiener Zeitung": Herr Hall, wir sitzen hier am Campus der Uni New Orleans, in einer Stadt, die seit ihrer Verwüstung durch den Hurrikan "Katrina" 2005 eine radikale Transformation erlebt. Gibt es an diesem Ort besondere Lehren, die sie nach Brüssel mitnehmen?Ronald Hall: Auch wenn das, was hier in Louisiana passiert, nicht repräsentativ für die USA ist - genauso wenig, wie es etwa Detroit wäre -, steht man hier dennoch in vieler Hinsicht vor den gleichen Herausforderungen wie im Rest des Landes. Wie in Europa sind immer noch die Auswirkungen der Finanzkrise zu spüren, ebenso wie die Probleme bei der Bewältigung des Strukturwandels und denen der verschärften Rahmenbedingungen im internationalen Wettbewerb mit aufstrebenden Ländern wie China oder Brasilien. Was man in New Orleans offenbar geschafft hat, ist, dass der öffentliche und der private Sektor beim Wiederaufbau der Stadt an einem Strang gezogen haben. Aber bei all dem darf man nicht vergessen, dass nach "Katrina" enorme Summen hierher geflossen sind - manche Schätzungen gehen, wenn wir dem glauben, was wir im Rahmen der Konferenz gehört haben, bis zu 150 Milliarden Dollar in den vergangenen acht Jahren. Das ist einmalig in der Welt. Zum Vergleich: Die EU hat in den letzten sieben Jahren rund 400 Milliarden Dollar für Wirtschaftsentwicklung ausgegeben - für eine Bevölkerung von rund 500 Millionen Menschen. (Greater New Orleans zählt rund 1,2 Millionen Einwohner, der Bundesstaat Louisiana rund 4,6 Millionen, Anm.)Angesichts solcher Summen scheint es keine Kunst, dass New Orleans heute wieder halbwegs gut da steht. Aber von der spezifischen Situation dieser Region abgesehen: Welche Parallelen und welche Unterschiede gibt es zwischen Europa und den USA in Sachen Regionalentwicklungspolitik?
Wir Europäer haben ja manchmal das Gefühl, dass wir im Vergleich zu den USA aufholen müssen, was eine gewisse Dynamik angeht. Aber bei allen Unterschieden: Wenn es um Wirtschaftsentwicklung geht, lautet die Kritik an der Multi-Level-Governance auf beiden Seiten des Atlantiks gleich: unklar formulierte Ziele, bei der Frage, was es mit bestimmten Maßnahmen zu erreichen gilt, ein Wettbewerb unter Staaten und Bundesstaaten, der oft nicht notwendig und nicht sinnvoll ist. In den USA wie in Europa wünschen sich deshalb viele Menschen eine bessere Organisationsstruktur, von der Ebene der Bundesregierungen bis hinunter zu den kommunalen Einheiten - schon allein deshalb, um die Machtbalance zwischen den Regierungen auf der einen und den Repräsentanten des Big Business auf der anderen auszugleichen.
Was kann die EU heute von den USA lernen?
In der EU haben wir ein klares Defizit, was Innovation und Forschungsanreize angeht. Nicht nur im Vergleich mit den USA, sondern mit auch Japan. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Was die Forschung angeht, zählt Europa in manchen Bereichen zur Weltspitze. Aber wir haben großen Aufholbedarf, was die angewandte Forschung angeht. Es heißt oft, dass Europa das globale Zentrum der Grundlagenforschung ist - aber nicht dabei, die daraus resultierenden Produkte und Prozesse auf den Markt zu bringen.
Konkret?
Schauen Sie sich zum Beispiel das iPhone von Apple an. Das vereint eine Reihe von Technologien, die es teilweise seit Ewigkeiten gibt. Aber es gab nur eine Firma, die die Idee hatte, diese Technologien in einem qualitativ hochwertigen Produkt zu vereinen. In der EU scheinen wir bisher nicht die Kapazitäten für die Entwicklung solcher Dinge zu haben. Und genau das sollte sich ändern.
Ist es nicht der Job von Leuten wie Ihnen, dazu beizutragen?
So weit das meine eigene Arbeit betrifft, ja. Und nach allem, was ich von meinen Kollegen aus den Research and Technological Framework Programs der EU mitbekomme, findet diese Änderung - weg von der Grundlagen-, hin zu mehr marktorientierter Forschung - auch dort bereits statt. Aber es wird noch dauern, bis diese Entwicklung Ergebnisse zeitigt. Es ist auch eine Frage der eingesetzten Mittel: Das Geld, das die EU für Forschung und Innovation ausgibt, entspricht, gemessen am Bruttosozialprodukt, ungefähr der Hälfte von dem, was die USA dafür ausgeben. Dazu kommt, dass der private Forschungssektor in Europa bei weitem nicht so gut ausgebildet ist wie in den USA. Der Großteil unserer Forschung findet an mit öffentlichem Geld finanzierten Universitäten statt, von denen es die meisten nicht als ihre Aufgabe ansehen, die Art von Forschung zu betreiben, als deren Ergebnis am Ende marktreife Produkte stehen.
Ein Mentalitätsproblem?
Ja. In meinem Bereich versuchen wir, im Rahmen der Regionalentwicklungsprogramme einen Beitrag zur Änderung des Status quo zu leisten. Wir wollen, dass die Regionen Innovation zu ihrer obersten Priorität erklären. Auf der Ebene der Nationalstaaten findet das teilweise bereits statt. Manche Länder, die heute Förderungen und Stipendien für Forschung vergeben, knüpfen diese nicht mehr nur an die Qualität dieser Forschung, sondern an konkret zu erwartende, angewandte Ergebnisse. Vielleicht sage ich es so am besten: Europa ist in diesem Zusammenhang ein Riesentanker, der seine Richtung ändern muss.
Gibt es auch etwas, das die USA von Europa lernen können?
Ganz sicher. Wenn ich US-Spitzenpolitiker wäre, wäre ich sehr über die Steueranreize besorgt, mit denen heute Unternehmen die Ansiedelung in den USA schmackhaft gemacht wird. Diese kommen dem Fiskus meistens extrem teuer, sie scheinen sich fast ausschließlich auf große Unternehmen zu konzentrieren - obwohl es nachgewiesenermaßen vor allem kleine und mittlere Betriebe sind, die für die größte Anzahl von Jobs sorgen - und sie erlauben es den Unternehmen, eine Region oder einen Bundesstaat gegen den anderen auszuspielen. Wir haben in Europa ähnliche Probleme, aber mir scheint, dass wir mit der Lösung weiter sind, weil wir eine Obergrenze für diese Art von Förderungen eingezogen haben. Wir sind insofern auf einem guten Weg, als eines Tages vielleicht wirklich einmal ganz Schluss ist mit der Idee, dass es diese Anreize wirklich braucht. In den USA scheint diese Diskussion erst jetzt zu beginnen.
Zur Person
Ronald Hall
Der gebürtige Belfaster ist Chefberater der EU-Kommission für Regionalentwicklung.