)
Der Stand 129 sorgt mit Kunst und Kultur für nachbarschaftlichen Zusammenhalt.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Wien. Versteckt zwischen Auslagen voller Lungenbraten und Beuschel, neben orientalischem Brot, Kunstledertaschen und Gemüse, da steht er, der sonnengelbe Stand 129. Es ist Samstag am Viktor-Adler-Platz, Markttag. Laut wird rundherum Ware angepriesen, nur am Stand 129 nicht. Da stehen gemütliche Sofas drinnen und von außen beschlägt der Dampf einer großen Kanne mit heißem Schwarztee die Scheiben. Menschen schlendern vorbei. Ein Mann gießt Tee in die geschwungenen türkischen Teegläser mit den silbernen Untersetzern. Ein Stück Zucker dazu. Noch einen Tee? Er lächelt und verteilt Chai an Passanten. Mitten in dem Treiben sind einige Leute aus der Umgebung gekommen, um auszuruhen, zu plaudern und Tee zu trinken. "Chat and Chai" heißt das Programm, wo es darum geht, auch einmal kein Programm zu haben, sondern einfach nur zusammenzukommen.
Kultur zwischen Lebensmittelläden
Seit Oktober 2013 gibt es den Marktstand mit der Nummer 129. Er ist ein Kunst- und Kulturraum der Caritas. Eine kleine Kulturinsel zwischen Lebensmittelläden. Dabei geht es vor allem darum, durch verschiedene Projekte Menschen aller Herkunft und Sprachen zusammenzubringen. Jeden Dienstag etwa, wenn der Chor Lieder aus Chile, dem Irak oder China einstudiert - natürlich in Originalsprache. Jeden zweiten Samstag, wenn bei "Chat and Chai" geplaudert wird. Oder einmal im Monat, wenn im Stand in heimeliger Atmosphäre ein Wohnzimmerkonzert stattfindet. Und immer dann, wenn es temporäre Initiativen gibt, wie das Videoprojekt zum Thema "Was heißt schon Arbeit?" Kunst, Kultur und Partizipation mitten im zehnten Bezirk, das ist die Idee.
"Wir versuchen, Menschen aktiv in Projekte einzuladen, wo sie auf andere treffen, mit denen sie sich sonst nicht auseinandersetzen würden", sagt Tilman Fromelt, Leiter des Marktstands, der bereits 2008 nach Wien kam, um die Brunnenpassage im 16. Bezirk mitaufzubauen. Dabei ist der Ansatz hier ein künstlerischer. "Aber ob die Leute das, was wir machen, auch als Kunst sehen und verstehen, ist erst einmal zweitrangig", sagt Fromelt, der in Deutschland Politikwissenschaft und Schauspiel studiert hat. Es gehe mehr darum, die Menschen zusammenzubringen. "Der Bezirk ist stark polarisiert", sagt Fromelt und streicht sich mit der Hand über die Glatze. Ein Ort, der nicht nur dem Wandel der Zeit, sondern auch seiner ideologischen Ausrichtung ausgesetzt ist.
Nach Viktor Adler, dem Begründer der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, benannt, ist der Platz heute Schauplatz der Wahlkampfveranstaltungen von SPÖ und FPÖ. Längst ist die Arbeiterklasse, wie sie Adler kannte, verschwunden. Heute wird nicht mehr nach Klasse unterschieden, oft aber nach Familienname. "Egal wen man fragt, hier ist man ständig mit Vorurteilen konfrontiert", sagt Fromelt. Es gelte diese Stereotype aufzulösen.
Freier Zugang ist wichtig
Fromelt deutet aus dem Stand heraus quer über den Viktor-Adler-Markt in Richtung U1 Station Keplerplatz. Drei Stationen sind es bis zum Karlsplatz, um die wichtigsten Kulturtempel des deutschsprachigen Raumes zu erreichen, die Oper und das Burgtheater. "Diese Kulturangebote sind alle total nah, aber das heißt noch nicht, dass sie auch zugänglich sind", erklärt Fromelt. Muss man einen Dresscode beachten? Kann man da einfach so hinein? Hier gäbe es große Hemmschwellen, weil das Wissen oft nicht da sei. "Wir waren einmal mit einer Gruppe im Museumsquartier, die davon ausging, dass das Areal Eintritt kostet."
Was hat das mit Kunst zu tun?
Dem Stand 129 soll das nicht passieren, der sich als ein "niederschwelliger Raum" der Kunst versteht, der frei zugänglich für alle ist. Der Chor folgt demselben Prinzip. Eine Gesangsausbildung braucht es nicht, nur die Lust am Singen und das Interesse am Gegenüber.
Dolores, eine Österreicherin mit spanischem Namen, steht neben der jungen Studentin Ayagoz, was auf Kasachisch so viel bedeutet wie "Schöne Augen". Eine Dame mit feuerrotem Kurzhaarschnitt kramt ein kleines Büchlein hervor und liest einige kasachische Ausdrücke vor. Ayagoz lächelt. "Und woher sind Sie?" - "Aus Serbien", sagt Rada. "Hört gut zu!" Rada singt die erste Strophe des chinesischen Lieds vor, das sie erst kürzlich einstudiert hatten. "Ich habe das letztens auch in einem chinesischen Geschäft zur Übung einfach mal vorgesungen, da wurde alles verstanden", sagt sie glücklich. Alle lachen. Dann beginnt die Probe, wie jeden Dienstag um halb acht Uhr abends. Diesmal mit "Foug Al-Kakhl", einem irakischen Lied.
Aber was hat das alles mit Kunst zu tun? Tilman Fromelt ist für einen kurzen Moment still. "Darauf gibt es keine gescheite Antwort, das ist wohl Definitionssache", sagt er. Seit kurzem organisiert das Team vom Stand 129 auch kostenlose Deutschkurse mit Freiwilligen aus Favoriten. "Da ist letztens eine Schriftstellerin zu uns gekommen und hat gesagt: ,Na, wenn das keine wahre Kunst ist?‘ Interessant das hätte ich so nicht gesehen."
Tilman Fromelt ist kein Sozialarbeiter und kein Kunstkritiker, er arbeitet nur gerne mit Menschen. Wie das verstanden wird, darf selbst beurteilt werden. Fromelt bringt das Beispiel "urban gardening". Viele dieser Gemeinschaftsgärten seien von Künstlern initiiert. "Aber ist das jetzt ein Konzept? Ich glaube das hat vor allem etwas mit einem Menschenbild zu tun und wie man anderen begegnet." Für Fromelt war nach dem Sommer und der Flüchtlingsbewegung klar, da gibt es die eine Seite, die Deutsch lernen will, und die andere, die helfen möchte. "Das ist kein gesellschaftlicher Anspruch, sondern Logik. Wenn es diese beiden Gruppen gibt, sind wir gerne Mittler." Kunst hin oder her.