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Marokko: Kein Ende der Proteste

Von Dorothée Bellamy

Politik

Keine echte Veränderung mit der neuen Verfassung.|Die Forderungen nach mehr Demokratie und Gerechtigkeit bleiben vorerst ungehört.|Die Demonstranten wollen durchhalten.


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Nach den Aufständen in Tunesien und Ägypten hat Marokkos König  Mohammed VI. dem Ansteckungsfaktor sofort vorbeugen wollen. Am 9. März kündigte er Verfassungsänderungen an, die "die Säulen einer konstitutionellen, demokratischen, parlamentarischen und sozialen Monarchie stärken" sollten. Am 17. Juni wurde die neue Verfassung offiziell bekannt gegeben, am 1. Juli sollte sich die marokkanische Bevölkerung dazu aussprechen. Das Ergebnis war eindeutig: mehr als 98% stimmten für die neue Verfassung, fast 74% der Bevölkerung nahm an der Abstimmung teil.

Die Verfassungsänderungen sind aber umstritten: Für die Protestbewegung des 20. Februars handelt es sich aber um rein kosmetische Maßnahme. Theoretisch habe der König auf die Forderungen nach einer parlamentarischen Monarchie und nach der Beseitigung der breit anzutreffenden Korruption antworten wollen. In der Praxis sei man nur von einer absoluten zu einer konstitutionellen Monarchie übergegangen.

Kosmetische Verfassungsveränderungen<br style="font-weight: bold;" /> Nach der neuen Verfassung soll die Macht des Premierministers gestärkt werden: der König soll ihn aus der Mehrheitspartei auswählen, er kann nicht vom Monarchen entlassen werden und er kann das Parlament auflösen (ein Druckmittel, das bisher nur dem König zustand). Der Monarch bleibt aber das Rückgrat des Regimes: "Grundsätzlich behält der König seine königliche Macht in seinen wesentlichen Kompetenzbereichen wie Diplomatie, Armee, Justiz, innere und religiöse Angelegenheiten" stellt der Forscher Kader Abderrahim in einem Interview in der algerischen Zeitung Al Watan fest. Nach seiner Einschätzung geht es sogar um eine "minimalistische Reform", quasi ein reines "Reförmchen".

"Mit dem schriftlichen Festhalten der Rolle des Königs als Vorsitzendet des Rats der Ulemas (die Religionsgelehrten des Islams) in der neuen Verfassung wurde die religiöse königliche Macht bestätigt" hat zudem die Maghreb-Expertin Khadija Mohsen-Finan angemerkt. Nach wie vor bleibt Mohammed VI. Beherrscher der Gläubigen. Dieser Status, der seiner Person die Unverletzlichkeit gewährleistet, wird vor einigen kritisiert, bleibt aber von der Mehrheit der Bevölkerung die Legitimitätsquelle der Monarchie. "In einem Land, wo die Hälfte der Bevölkerung Analphabeten sind, wurde diese Forderung nur von einzelnen Intellektuellen und von den Islamisten der Gruppe Gerechtigkeit und Wohlfahrt unterstützt", erklärt Khadija Mohsen-Finan der Wiener Zeitung. Dieses Thema zähle nicht zu den Prioritäten. Zudem wollen nicht alle Marokkaner auf diese wichtige Symbol ihres Landes verzichten: In Marokko wird das Recht im Namen des Königs gesprochen und der Konsens soll auch im Namen der königlichen Heiligkeit gesucht werden.

Die Korruptionsfrage beiseite gelassen
Für Mohsen-Finan werden die Fortschritte in Richtung einer parlamentarischen Monarchie durch das vorherrschende Wahlsystem verhindert. "Eine Reform der Exekutive zugunsten einer besseren Machtverteilung zwischen dem König, dem Premierminister und dem Parlament kann nur erfolgen, wenn es freie Wahlen gibt. Und in Marokko ist dies noch nicht der Fall", erklärt Mohsen-Finan.

Die Frage der Korruptionsbeseitigung sei übrigens gar nicht erwähnt worden, obwohl sie eine wesentliche Forderung der Protestbewegung bedeute. Diese sei nicht bereit, den Kampf aufzugeben. "Mit der Zeit wachsen die Forderungen, die Mitglieder des sogenannten Schattenkabinetts werden immer öfter angezeigt. Der König selbst wird nicht angegriffen, sondern das ganze System und seine Abweichungen".

Allerdings sind genau diese Themen nach Ansicht von Beobachtern besonders für die jungen Marokkaner wichtig. "Diese Generation schneidet nicht so sehr das Problem der öffentlichen Freiheiten an,  in diesem Bereich hat Marokko schon Fortschritte gemacht, sondern viel mehr die Fragen der Transparenz, der Gerechtigkeit, der Korruption und der Ungleichheiten", erklärt Universitäts-Professor Mohammed Tozy in der französischen Wochenzeitung L´Express. "Die richtige Achillesferse der marokkanischen Monarchie ist nicht so sehr in den Institutionen zu finden, als in ihren Geschäften."

"Die Protestbewegung wird noch weitergehen"
"Und der Protest wird noch dauern", gibt Mohsen-Finan zu bedenken. Die Protestbewegung des 20. Februars organisiert jede Woche friedliche Demonstrationen. Man solle sie aber nicht als unorganisierte junge Demonstranten betrachten. Die Bewegung wird nicht nur durch verschiedene Vereine unterstützt, sondern stehe auch dem großen linken Pol (PSU, Einheitliche Sozialistische Partei) nah. Damit sei diese gemischte Gruppe auf der politischen Bühne stark verankert.
Jedoch wurde sie von der Regierung nicht zum Gespräch über die Verfassungsüberarbeitung  eingeladen. "Förmlich wurden keine Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition geführt. In der Eile wurde eine Veränderung von oben gesetzt und den Parteien keine Zeit gelassen, um auf die Regierungspropaganda zu antworten", erläutert Mohsen-Finan. Inhaltlich und förmlich habe der König enttäuscht und dadurch die Protestbewegung gestärkt.

Ob die Opposition in der Zukunft ihre Ziele erreichen wird? Für Khadija Mohsen-Finan ist die Frage falsch gestellt. "Das Wesentliche ist heute weniger das Ergebnis als die Dauer des Protests", meint die Forscherin.