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Marsch der Hoffnung

Von Reinhard Göweil

Leitartikel
Chefredakteur Reinhard Göweil.

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Ungarns Regierung beruft sich darauf, dass sie das Schengen-Abkommen einzuhalten habe. Ein formales Argument, denn die Lager in Ungarn und der Budapester Bahnhof widersprechen den Menschenrechten – und wenn schon rechtliche Argumente kommen, so sind diese wohl das höhere Gut. Wenn sich ÖBB-Chef Kern auf Punkt und Beistrich und mit großem Formalismus an die eisenbahngesetzlichen Bestimmungen gehalten hätte, wären in Hegyeshalom wohl schon Flüchtlinge verdurstet.

Und noch etwas sei klargestellt: Ungarns Behörden behindern die Bevölkerung bei ihrer Hilfe für die Flüchtlinge, alleine dafür sollte die Regierung aus dem Amt gejagt werden.

In Österreich und Deutschland zeigt sich indes, was eine Zivilgesellschaft zu leisten imstande ist. In den vergangenen Wochen haben sie eine zögerliche Politik vor sich hergetrieben – und mit der aktiven Hilfe für die Flüchtlinge Fakten geschaffen, der sich auch die Regierungen in Wien und Berlin beugten. Zwar erleichtert, doch der Anschub kam aus der Bevölkerung. Die Hilfsbereitschaft in Nickelsdorf, am Wiener Westbahnhof und in München trieb vielen die Tränen in die Augen. So schön kann die Welt sein.

Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung muss nun den Regierungen und den EU-Institutionen ein Auftrag sein, nicht nachzulassen. Wenn sich Regierungen weigern, bei der Aufnahme und Integration dieser Flüchtlinge mitzuhelfen, ist die Forderung, europäische Finanzierungen zu stoppen, legitim. Solidarität ist keine Einbahnstraße, und dies ist kein kurzfristiger Notfall, dies ist eine Völkerwanderung. Europa wird sich dadurch verändern.
Die Forderung der FPÖ Oberösterreich "Grenzen dicht" ist dabei ungefähr so sinnvoll wie Badetemperaturen für die Monate Jänner und Februar zu verlangen. Hunderttausende haben sich in den Krisenregionen auf den Marsch der Hoffnung begeben. In Nickelsdorf erzählte ein afghanischer Mann, dass er mit seinen beiden Kleinkindern seit drei Monaten Richtung Europa unterwegs war. Wer sagt diesen Menschen ins Gesicht, dass die EU-Verträge leider nicht mehr hergeben als in einem ungarischen Lager ohne Verpflegung und Wasser festgehalten zu werden?

Das Treffen der EU-Außenminister war wenig hoffnungsvoll, die Äußerungen des ungarischen Außenministers ein Skandal. Ein paar Wochen hat die EU noch Zeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Bis dahin ist die Zivilgesellschaft stark genug, für menschenwürdige Hilfe zu sorgen. Wenn sich das offizielle Europa dann immer noch nicht ein Beispiel am Westbahnhof genommen hat, dann wird die EU zerbrechen. Es werden die Menschen sein, die jetzt helfen, die sich von ihr abwenden. Mit Recht.