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Marsch durch die Institutionen

Von Philipp Lichterbeck

Politik

Marina Silva könnte die erste evangelikale Präsidentin Brasiliens werden. Die 56-Jährige lässt sich nicht in das übliche Rechts-Links-Schema einordnen und ist Projektionsfläche jener, die einen Wandel im Land wollen.


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Brasilia. Nur wenige Stunden, nachdem der Jet des brasilianischen Präsidentschaftskandidaten Eduardo Campos in der Hafenstadt Santos abgestürzt war, präsentierte seine Vize-Kandidatin den Grund, warum sie nicht mit an Bord gewesen sei. "Göttliche Vorsehung", sagte Marina Silva, die, während die Trümmer noch rauchten, als Campos’ Nachfolgerin gehandelt wurde. Tatsächlich hatte Silva die Einladung zu dem Flug ausgeschlagen, weil sie dort nicht mit dem Gouverneur von São Paulo zusammentreffen wollte, wie es in Campos’ Agenda vorgesehen war. Ihre Erklärung verlieh ihrer Kampagne nun jedoch etwas Messianisches: Gott hatte die 56-jährige Politikerin gerettet.

Wenige Tage später hob Campos’ kleine Sozialistische Partei Brasiliens (PSB) Marina Silva als neue Spitzenkandidatin auf den Schild - und mischte damit den brasilianischen Präsidentschaftswahlkampf erheblich auf. Laut jüngsten Umfragen erhielte Silva im ersten Wahlgang am 5. Oktober rund 30 Prozent der Stimmen und liegt damit nur sieben Prozentpunkte hinter Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT. Gelingt Silva die Sensation, müsste die PT nach zwölf Jahren den Amtssitz im Präsidentenpalast Planalto wieder räumen.

Das Phänomen Silva beschäftigt nun die Brasilianer, die in ihrer Mehrheit einen Wandel des politischen Systems wollen, das zu Recht als korrupt und ineffektiv gilt. Obwohl seit Jahren selbst Teil des Betriebs, gelingt es Silva in dieser Situation, sich als Anti-Politikerin darzustellen. Sie wolle eine "neue Politik" machen, lautet ihr Wahlkampfmotto.

42 Millionen Wahlberechtigte sind evangelikal

In Europa wird Maria Osmarina Silva de Souza oft mit dem Label Umweltschützerin versehen. Sie wurde im abgelegenen Amazonas-Staat Acre als eines von elf Kindern in eine arme Familie von Kautschukzapfern hineingeboren. Analphabetin bis zum 16. Lebensjahr, studierte sie Geschichte, wurde Lehrerin, gründete eine Gewerkschaft und kämpfte mit dem später ermordeten Aktivisten Chico Mendes für den Schutz des Amazonaswaldes. 2003 machte Präsident Lula, dessen Arbeiterpartei Silva angehörte, zur Umweltministerin. Fünf Jahre später schied Silva im Clinch aus Regierung und Partei aus, weil Lula ein quasi-sowjetisches Entwicklungsmodell verfolgte: Massenexport von Gen-Soja und Eisenerz sowie Megaprojekte ohne Rücksicht auf Umweltfragen. Bestes Beispiel: Belo Monte, der drittgrößte Staudamm der Welt am Amazonaszufluss Rio Xingu. Die Politik des Klotzens wurde von Lulas Nachfolgerin Rousseff fortgesetzt und verschärft.

Was bei der Berichterstattung über Silva oft untergeht: Sie gehört seit 1997 der Assembleia de Deus an, der Versammlung Gottes, eine der ältesten Pfingstkirchen Brasiliens und mit zwölf Millionen Gläubigen die größte. Wie überall in Lateinamerika verzeichnen die Pfingstkirchen auch in Brasilien seit den achtziger Jahren starken Zulauf, insbesondere aus ärmeren und ungebildeten Schichten. Ihr Erfolg basiert auf einer Theologie des Ergebnisses. Wunder finden nicht nur in der Bibel statt, sondern jeden Tag. Viele Pfingstkirchen treten mit dem Versprechen an, dass der Glaube den sprichwörtlichen Berg versetze: Gott heilt Krankheiten, er verhilft zu Job und Geld. Dementsprechend positiv wird der große Reichtum der evangelikalen Bischöfe bewertet. Die steuerbefreiten Kirchen verlangen von ihren Gläubigen völlig ungeniert den Zehnten; im Gegenzug gibt es die direkte Beziehung zu Jesus. Die Gläubigen umarmen sich im Gottesdienst und der Pastor ruft: "Es ist Jesus, der euch drückt."

Laut letztem Zensus definieren sich 42,2 Millionen der 202 Millionen Brasilianer als evangelikal. Sie machen damit nicht nur einen erheblichen Teil der Wählerschaft aus - rund 20 Prozent -, sondern treten seit den achtziger Jahren auch immer öfter selbst zu Wahlen an. 68 von 513 Abgeordneten im Parlament sowie drei von 81 Senatoren gehören heute der Frente Parlamentar Evangélica an, der Evangelikalen Parlamentsfront. Sie stellt den zweitgrößten parteiübergreifenden Interessenblock in Brasilia - nur noch übertroffen von der Bancada Ruralista, dem Block der Agrarindustrie.

Diesen kongressinternen Lobbygruppen kommt große Bedeutung zu, weil sie in der instabilen Parteienlandschaft Brasiliens - im Parlament sind 23 Parteien vertreten, die aktuelle Regierungskoaliton besteht aus zehn - als Mehrheitsbeschaffer dienen. Außerdem sind sie in der Lage, außerparlamentarischen Druck zu erzeugen, im Falle der Evangelikalen etwa über Gottesdienste sowie eigene Radio- und Fernsehsender. Wie das Institut für religiöse Studien (Iser) 2013 festgestellt hat, bestimmten die Evangelikalen gerade in den Peripherien der Städte den Diskurs, weil andere Akteure wie Gewerkschaften, soziale Bewegungen und NGOs abwesend seien: "Sie prägen die politische Kultur."

Charakteristisch für die Evangelikalen sind extrem konservative Positionen in gesellschaftspolitischen Fragen. Sie lehnen die Homosexuellen-Ehe ebenso ab wie die Legalisierung der Abtreibung. Demgegenüber wird etwa die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts für Jugendliche befürwortet. Außerdem behindern die Evangelikalen progressive Gesetzesvorhaben, etwa zur Aidsprävention oder zur Kriminalisierung der Homophobie. Ihr Einfluss wurde 2013 offenbar, als sie den Pastor Marco Feliciano ausgerechnet als Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses installierten. Feliciano war berüchtigt für seine homophoben und rassistischen Äußerungen.

Für Armutsbekämpfung, für Abbau des Staats

Auch außerhalb des Kongresses zeigen die Evangelikalen gerne ihre Macht. Erst vor wenigen Wochen weihte die Universalkirche vom Reich Gottes den gigantomanischen Salomon-Tempel mit mehr als 10.000 Sitzplätzen in São Paulo ein. Zur Feier erschien Staatsoberhaupt Dilma Rousseff, die in Bischof Edir Macedo, dem steinreichen Gründer der Kirche, einen ihrer wichtigsten Verbündeten sieht. Bei einem freitagmorgendlichen Gottesdienst in dem 230 Millionen Euro teuren Bau werden die Gläubigen aufgefordert, Zeugnis von den Wundern abzulegen, die ihnen widerfahren sind. Einer berichtet, wie er von Alkohol und Crack losgekommen sei. Eine Frau erzählt vom Verschwinden ihrer Krampfadern. Um Politik geht es nicht. Aber auf dem riesigen Platz vor dem Tempel reden die Gläubigen, mit denen man ins Gespräch kommt, dass sie selbstverständlich evangelikale Kandidaten unterstützen würden.

Würde nun Marina Silva brasilianische Präsidentin, hätte der Marsch der Evangelikalen durch die Institutionen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Dabei wäre es falsch, Silva einzig durch die religiöse Brille zu betrachten - ebenso wie man sie nicht ins übliche Rechts-Links-Schema einordnen kann. In ihrem Wahlprogramm hat Silva für jeden etwas zu bieten. Sie verspricht politische Reformen und umwirbt die jungen Brasilianer, die letztes Jahr auf die Straße gingen. Bei den Konservativen wildert sie mit einem liberalen Wirtschaftsprogramm. Wenn sie die Erfolge der PT in der Armutsbekämpfung lobt, schmeichelt sie deren Wählern im Nordosten. Gleichzeitig bietet sie sich rechtskonservativen PT-Hassern im reichen Südosten an, verspricht den drastischen Abbau des Staats.

Auch in gesellschaftspolitischen Fragen laviert Silva. Sie versucht die evangelikalen Wähler zufriedenzustellen - und modern denkende Brasilianer nicht zu verprellen. Im Zweifel optiert sie für die Ersteren. In ihrem Wahlprogramm befürwortete sie zunächst die Schwulen-Ehe, zog aber nach heftiger Kritik von evangelikalen Führern wieder zurück. Der einflussreiche Pastor Silas Malafaia hatte Silvas Position per Twitter als "moralischen Müll" bezeichnet. Nun unterstützt Silva die ohnehin existierende Zivilunion. Ebenso widerrief sie kurzfristig ihre Unterstützung für ein Gesetz zur Bestrafung von Homophobie ähnlich des Rassismus. Gestrichen wurde weiterhin das uneingeschränkte Adoptionsrecht für homosexuelle Paare sowie die schulische Aufklärung über Sex und Gender. Der schwule Abgeordnete Jean Wyllys nannte Silvas Schwenk einen "Wahlbetrug schon vor der Wahl".

Tatsächlich gibt Marina Silva eine ideale Projektionsfläche für alle Brasilianer ab, die einen Wandel möchten, ohne genau zu wissen, wie dieser aussehen soll. Dabei überschätzen sie kolossal die Position des Präsidenten, dessen Spielraum vom Kongress mit seinen unzähligen Partikularinteressen zerrieben wird. Auch Marina Silva wird bei den Ränkespielen in Brasilia mittun müssen. Es ist zu befürchten, dass sie sich dann allzu oft mit den rückwärtsgewandten Evangelikalen verbünden wird.

Offenes Rennen
Die seit 2011 amtierende brasilianische Staatschefin Dilma Rousseff wird um eine Stichwahl wohl nicht herumkommen. Das geht aus Umfragen vor der Präsidentschaftswahl am 5. Oktober hervor. Danach würde die Amtsinhaberin die für einen Sieg in der ersten Runde notwendige absolute Mehrheit klar verfehlen.

Laut Angaben des Datafolha-Instituts käme Rousseff im ersten Wahlgang auf 37 Prozent. Für Ex-Umweltministerin Marina Silva würden 30 Prozent stimmen und für den früheren Gouverneur Aecio Neves von der sozialdemokratischen Mitte-Rechts-Partei PSDB 17 Prozent.

Offen wäre der Ausgang der Stichwahl, die am 26. Oktober stattfinden würde. Silva würde demnach mit 46 Prozent nach jetzigem Stand sogar knapp vor Rousseff (44 Prozent) liegen.

Silva will im Falle ihrer Wahl lediglich eine Amtszeit ausüben. Sie kündigte an, dies für den Präsidentenposten gesetzlich festschreiben zu wollen - bei gleichzeitiger Verlängerung der Amtszeit um ein Jahr auf fünf Jahre.