Martin Ott, biodynamischer Landwirt aus der Schweiz, erklärt, was Menschen alles vom Seelen- und Herdenleben der Kühe lernen können.
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"Wiener Zeitung": Viele Menschen sehen Kühe als bloße Milch- und Fleischlieferanten, manche Kinder in Großstädten wissen oft nicht einmal mehr, dass die Milch von der Kuh kommt. Auch benützen wir gern das Schimpfwort "dumme Kuh". Bringen wir der Kuh zu wenig Wertschätzung entgegen? Martin Ott: Alle seit Jahrtausenden domestizierten Haustiere sind eng mit den Menschen und ihrer Entwicklung verbunden. Jedes dieser Haustiere hat wichtige Kulturimpulse und menschliche Fortschritte ermöglicht. Die Entwicklung eines Transportsystems wäre ohne das Pferd nicht möglich gewesen. Die kulturelle Leistung der Kuh besteht darin, dass der Mensch mit ihrer Domestizierung zur Sesshaftigkeit übergehen konnte. Nur die Kuh kann auf einunddemselben Stück Land Jahre lang fressen und - Entschuldigung! - scheißen, und der Boden unter ihr wird von Jahr zu Jahr besser und fruchtbarer. Darum ist die Kuh das Tier der Lebensweise "Dableiben, wo man ist" und "Zufriedensein mit dem, was man hat" - einschließlich aller positiven und negativen Seiten.
Bei den Indern wird die Kuh bis heute als heiliges Wesen verehrt. Das kann man verstehen, wenn man die indische Kultur kennt, die davon ausgeht, dass der Mensch nur ein Gast auf Erden ist. Alles Irdische ist "Maya", das heißt Täuschung. Von diesem Blickwinkel aus wird die Harmonie und die Zufriedenheit mit dem Irdischen, die eine Kuh ausstrahlt, als heilige, ja göttliche Gabe erlebt.
Was können wir von Kühen lernen?
Die Kuh bringt den Menschen, die sich wirtschaftlich und kulturell auf sie einlassen, Gleichmaß ins Leben. Wenn Sie Ihr Leben an der Versorgung von Kühen ausrichten, erleben Sie die Kuh wie ein heilsames Metronom für die rhythmische Gestaltung ihres Alltags. Die Kuh kann also auch therapeutisch eingesetzt werden, um Menschen zu helfen, die zivilisatorische Verwirrung oder dauernde Störung ihres Tagesablaufes in Ordnung zu bringen. Ich sage oft in Vorträgen, dass wir in hundert Jahren in jedem Schulhaus eine Kuh haben werden, da wir ohne Kühe die Kinder gar nicht mehr in einen organischen Rhythmus bringen können.
Was hat es mit dem Wiederkäuen auf sich?
Eine Kuh frisst rund acht Stunden am Tag. Zusätzlich kaut sie das Gefressene täglich ebenfalls acht Stunden lang. Wird das Wiederkäuen aus irgendeinem Grund verunmöglicht, platzt die Kuh an der Gärung der riesigen Futtermenge innerhalb weniger Stunden. Sie frisst täglich rund ein Viertel bis ein Drittel ihres Körpergewichts. Solche Mengen kann sie nur verdauen, indem sie die stärksten Lebensvorgänge einsetzt, die es gibt, und das ist die rhythmische Verlebendigung der ständig gärenden Substanz. Und dies macht die Kuh in einer meditativen, genießerischen Art. Eine französische Feinschmeckerin ist sie nicht beim Fressen, sondern beim Verdauen. Aus dieser intensiven seelischen und rhythmischen Arbeit entsteht das Wunder des Gleichgewichtes ihrer Verdauung.
Die Kuh hat aufgrund dessen so viel Leben in sich, dass sie durch extreme Züchtung eine Milchmenge geben kann, die für 40 Kälber reichen würde. 20.000 kg pro Jahr sind heute möglich. Den Samen des Stieres kann man bis zu 200-mal verdünnen und damit 200 Kühe besamen. Diese Leistungssteigerung findet man weder bei Pferden noch bei Schweinen.
Es wird uns heute aber zunehmend bewusst, dass wir die Kuh durch die stete Förderung ihrer Leistungskapazität zunehmend auslaugen, und zwar über Generationen hinweg. Das Durchschnittsalter unserer europäischen Milchkühe ist in den letzten Jahrzehnten bedrohlich gesunken, wir züchten heute aufgrund ihrer wunderbaren Leistungsbereitschaft die Wegwerfkuh - eine Schande!
Kühe sind Herdentiere und in der Herde herrschen Hierarchien. Wie funktionieren diese Hierarchien und wie muss der Bauer darauf Rücksicht nehmen?
In jeder Herde herrschen zwei ordnende Tendenzen vor. Erstens eine Binnendifferenzierung durch das Bilden von Familien und Sippen, dies hält die Herden zusammen. Und zweitens eine Hierarchisierung durch die Rangordnungen, dies treibt die Herden eher auseinander. In einer Milchviehherde haben wir keine verwandtschaftlichen Beziehungen mehr, weil es ja der Landwirt ist, der täglich als ewig hungriges "Kalb" an seinen Kühen saugt und nicht mehr die Kälber selbst. So ist nur noch die Rangordnung als ordnendes Element vorhanden.
Das fehlende integrierende Element der Verwandtschaften muss der Landwirt kompensieren. In alten Bildern von Milchkuhherden sieht man vor der Herde die Bauernkinder, hinter der Herde den Großvater, der Bauer selbst aber befindet sich mitten in der Herde. Dort ist er zur Beruhigung und als ordnendes Element nötig. Diese Rolle müssen viele junge Landwirte und Hirten heute erst erlernen, sie sind nicht mehr damit aufgewachsen. Es ist aber einer der glücklichsten Momente in einem Hirtenleben, wenn man spürt, wie man von den Kühen akzeptiert und gebraucht wird, um das psychische Gleichgewicht im Kollektiv wieder herzustellen.
Gibt es in einer Kuhherde viel Hierarchiegerangel?
Es gibt eine Hierarchie, oder besser gesagt: ein Netz, das sich laufend ändern kann. Bei unserer Herde beobachte ich mindestens drei Hierarchieebenen. Wenn ich ein Weidentor aufmache, dann stehen die stärksten Kühe nebeneinander am Tor; sie schauen mich an, empfangen mich und wollen nach Hause. Hinter ihnen steht die restliche Herde, aber die Starken kümmern sich nicht darum, es ist ihnen egal, was hinter ihnen passiert. Dann folgt der große Ring der Zweitklassierten, sie warten angespannt und passen auf, dass ihnen keine andere Kuh zu nahe kommt oder sich vordrängt. Dort gibt es manchmal Raufereien; das ist der schwierigste Teil der Herde. Der letzte Ring, das sind die ganz unten. Die schauen in die entgegengesetzte Richtung auf die Wiese hinaus und tun so, als merkten sie gar nicht, dass es nach Hause geht. Sie haben keine Probleme im Hierarchiegerangel, sie haben sich mit ihrer Situation abgefunden.
Verändern sich die Hierarchiekämpfe durch eine bestimmte Haltung, zum Beispiel durch das Wegbrennen der Hörner?
Die Kuh trägt mit den Hörnern einen Respektsraum vor sich her. In einem Abstand von rund vier Metern hält jede andere Kuh vor diesem Respektsraum an und fragt mit Gesten und Bewegungen um Erlaubnis, ob sie näher kommen darf. Die Kühe sprechen ununterbrochen durch ihre Bewegungen und Gesten zueinander, nichts ist zufällig. Diese Sprache wird durch die Entfernung der Hörner gestört und reduziert. Dadurch kann man zwar die Distanz zwischen Kühen verringern und Kosten sparen, um sie enger beieinander einzusperren, man nimmt aber der einzelnen Kuh einen Teil ihrer Ausdrucksfähigkeit, vergleichbar einer Verletzung oder Entfernung der Zunge beim Menschen.
Haben Sie eine Lieblingskuh? Wenn ja, was zeichnet sie aus.
Ich bemühe mich sehr, alle meine Kühe zu lieben. Weil ich aber ja von ihnen als Kalb adoptiert bin, ist es vor allem umgekehrt so, dass sie alle mich lieben. Beziehungen bauen sich auch durch gemeinsame Erlebnisse auf. Krankheiten zum Beispiel, die man zusammen durchgestanden hat, können eine starke emotionale Verbindung schaffen. Es ist ein bisschen wie bei den Beziehungen zwischen Menschen: man verliebt sich in die weibliche Jugendlichkeit einer Jungkuh, eine richtige Beziehung ist aber erst mit der Zeit, durch gemeinsame Erlebnisse möglich. Je älter und würdevoller eine Kuh wird, desto lieber hat man sie, weil sie durch das Alter und die Erfahrung immer mehr zu einer Persönlichkeit wird, insofern sie ein Leben führen kann, das nicht nur von Dumpfheit und wirtschaftlicher Ausnützung geprägt ist.
Die meisten Kühe werden künstlich besamt und dürfen nicht mehr die Bekanntschaft eines Stiers machen. Bringt ein Stier trotzdem Vorteile für die Herde? Wie mischt er die Herde auf?
Leider wird der Stier oft auf die Abgabe des Samens reduziert. Wenn man eine Herde beobachtet und einen Stier über Jahre in der Herde belässt, übernimmt er aber sehr wichtige und überraschende Aufgaben. Er duldet vor allem keine Unruhe durch Rangkämpfe. Wenn jemand kämpft, dann er. Steht er erst einmal zuoberst in der Hierarchie, dann hat er eine sehr beruhigende Wirkung auf das Herdengefüge. Da er nicht so viel fressen muss wie die Kühe, hat er mehr Zeit für das bewusste soziale Leben. So kann er zum Beispiel eine Kuh, die frisch gekalbt hat und noch Nachgeburtsreste ausscheidet, immer ein wenig vor sich hertreiben, um die Rückbildung der Gebärmutter zu beschleunigen. Der Stier muss aber in seine Rolle hineinwachsen und jahrelang Erfahrungen sammeln, um seine Rolle immer besser spielen zu können. Leider dürfen nur wenige Milchkühe mit einem älteren, ehrwürdigen, erfahrenen und gebildeten Stier zusammenleben, weil es den Landwirten zu gefährlich ist, einen Stier zu halten. Es ist vor allem dann gefährlich, wenn man die Gebärdensprache der Stiere nicht versteht und keinen Stall hat, wo der Stier stressfrei mit der Herde zusammenleben kann.
Man unterstellt den Kühen, wegen des Ausstoßes von Methangas zu einem großen Teil mitverantwortlich für Erderwärmung und Treibhauseffekt zu sein. Ist dieses Argument ernst zu nehmen?
Dieser Vorwurf gilt nur für Kühe, die zu Leistungen getrieben werden, die nicht ihrer Verdauungsart entsprechen. Die Kuh wird heute mit Palmfett, mit Soja, also mit Kraftfutter, das aus der ganzen Welt herbei gekarrt wird, gefüttert. Als ob sie den Magen eines Schweines hätte. Die Kuh ist aber ohne langfristigen Schaden nicht in der Lage, leicht verdauliche Kohlenhydrate zu verdauen, sie ist seit Jahrtausenden gewohnt, Raufutter - also Kohlenhydrate auf dem Weg zur Zellulose - zu verwerten, und zwar aus ihrer Umgebung. Wird sie wie ein Schwein gefüttert, ist das ein so-zial und tierethisch bedenkliches Handeln gegenüber der Kuh, zudem ein wirtschaftlicher Unsinn, und es ist ein Frevel gegenüber der Ökologie, weil die Transporte der Futtermittel die Umwelt verpesten. Überdies ist es eine Ungerechtigkeit gegenüber der Zweiten und Dritten Welt, weil die Sojaflächen und Palmfettkulturen in Brasilien und anderswo für unsere Kühe nicht nur den Regenwäldern, sondern auch den dort lebenden Kleinbauern gestohlen werden. Schließlich stößt so eine Kuh aus ihrer überforderten Verdauung Gase aus, die das Klima belasten. Was kann denn da aber die Kuh dafür?
Zur Person
Martin Ott ist ein Schweizer Meisterlandwirt, biodynamischer Bauer, Liedermacher und Sozialtherapeut. Er bewirtschaftet mit befreundeten Familien, Lehrlingen, Praktikantinnen und mit geistig oder psychisch behinderten Menschen den größten Biobetrieb der Schweiz in Rheinau (Kanton Zürich) mit Schweinen, Schafen, Pferden, Gänsen, Hühnern und Bienen, sowie ca. 65 Milchkühen und 30 Rindern.
Irene Prugger, geboren 1959 in Hall, lebt als Autorin und freie Journalistin in Mils in Tirol.