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Maschenanschlag im Netz

Von Wolfgang Tumler

Reflexionen
Webdesignerin, Dozentin, Strickerin: Elisabeth Wetsch.
© Peter Putz, www.ewigesaechiv.at

Elisabeth Wetsch alias "Elizza" hat sich mit einer einfachen Idee, zwei Nadeln und viel Wolle eine Millionenschaft an Followern auf YouTube erstrickt.


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Dies ist eine Geschichte aus dem kleinen Ort Kritzendorf in Niederösterreich, wo sich in einer Raucherpause auf dem Vorplatz des verträumten Strandcafés plötzlich eine ganze Welt auftut - eine Welt im Netz. Vorgestellt wird mir eine aparte Frau mit grau durchsetzter schwarzer Kurzhaarfrisur und funkelnden Augen, die gerade aus Wien gekommen und Eigentümerin eines der schönsten historischen Stelzenhäuser im Hochwassergebiet an der Donau geworden war.

So weit wäre das nichts Besonderes, aber die Frau hatte zu der Zeit schon sechzig Millionen Zugriffe auf dem Internetportal YouTube erreicht - mit Stricken. Sechzig Millionen mit Stricken auf einem Portal voller alter Rockstars und junger Comedians? Das schau ich mir an, hab ich gedacht, und als es nach einem Jahr endlich klappte mit der Einladung auf einen Kaffee, hielt die magische Zahl schon bei zweiundachtzig Millionen, zehn Clicks auf jeden lebenden Österreicher. So oft waren ihre selbstgedrehten kleinen Videos mit Tipps zum Stricken angeschaut worden, und die Zahl wächst weiter. Wie konnte das geschehen?

Bestrickender Beginn

Elisabeth Wetsch, von Beruf Webdesignerin und Dozentin in Wien, die sich nach der Heldin in Bernard Shaws Theaterstück "Pygmalion" Elizza nennt (im Gegensatz zum literarischen Vorbild aber mit zwei z), wollte 2008 ihren Studierenden eigentlich nur vorführen, wie man ein einfaches kleines Video produziert und bei YouTube ins Netz stellt. Beim stundenlangen Wachen am Bett ihrer sterbenskranken Mutter war sie in Erinnerung an die Schulzeit aufs Stricken zurückgekommen, und so wählte sie als Gegenstand des Videos mit den Studierenden nicht ihren ersten Einfall ("Wie binde ich einen Schuh zu?"), sondern die Frage, wie man einen Maschenanschlag strickt, also mit dem Stricken beginnt.

Gesagt, getan - und schnell vergessen. Es vergingen ein paar Wochen ohne weitere Beachtung, bis Elizza im Netz schauen wollte, was aus dem Spot bei YouTube geworden war. Sie fand hunderte Kommentare und vierzigtausend Zuschauerkontakte vor, wurde neugierig und entdeckte etliche Homepages mit Strickhilfen. In Ästhetik und Anleitung erschienen ihr die durchwegs "grausam", und wenn Elizza etwas sinnvoll, aber gar nicht gelungen findet, will sie es besser machen.

Schon als Mitarbeiterin der Werbeagentur Saatchi & Saatchi bot sie an, einen Urlaub zu opfern, um endlich einen Computer zu bekommen. Den ersten eigenen schenkte ihr dann aber erst der Geliebte 1986 zu Weihnachten, und Elizza begann sofort, kleine Programme zu schreiben. Vom USA-Urlaub brachte sie teure Horoskope auf Floppy-Discs mit und es gelang ihr, Übersetzungen ins Deutsche zu verkaufen, bis sie sich ihren ersten Mac leisten konnte. Die PCs importierte sie dann sogar eine Weile lang nach Österreich, wo der Markt dafür gerade erst erwachte. Nebenbei machte sich Elizza als Texterin selbstständig, schrieb Programme, und das sprach sich herum.

1995 wurde sie vom EDV-Leiter der Technischen Universität Wien beauftragt, ein neues Organigramm der gesamten Hochschule zu entwerfen. Auf morbiden Leitungen und mit dem Risiko, ständig Daten zu verlieren, experimentierte Elizza über Fax und Telefon in Richtung Internet, bis sie eine erste Verbindung gebastelt hatte und an andere Websites herankam, von denen sie lernen konnte. Über die Technik hinaus wollte sie aber auch Ansprüche an Ästhetik und Unterhaltung verwirklichen. In einem sehr auffälligen Comic-Design schuf sie briefmarkengroße farbige Profilbilder für die einzelnen Abteilungen der Hochschule und erntete dafür sowohl einen Proteststurm der konservativen Professoren als auch Preise bei Wettbewerben für Gestaltung. Was heute Web-Design heißt, fing damals gerade an, und Elizza war in Österreich einer der ersten Stars.

Ihre Energie und ihre Kreativität führten Elisabeth Wetsch in der Folge zu einer eigenen Agentur für Webdesign mit Aufträgen von Ministerien und Banken, mit zehn Mitarbeitern und sechsstelligen Budgets. Auf dem Gipfel angekommen, ließ sie sich in einen Medienriesen integrieren - und wurde in einen Konkurs mitgerissen.

Nach dem Tod ihrer Mutter und dem Geschäftsabsturz niedergeschlagen zu sein, ergab zwar Sinn, aber wiederum wollte Elizza es besser machen. Sie war gescheit genug, nicht auf den nächsten Versuch im selben Revier zu setzen, sondern griff zu Wolle und Nadeln. Auf der Krebsstation im Spital hatte sie schon Mützen für Glatzen gestrickt und für sich selbst eine erholsame, heilsame Verlangsamung kennengelernt.

"Ich hab mich da rausgestrickt", sagt sie heute. Nichtstun mache sie fertig, aber mit Stricken geht’s. Der Stress fließt über die Hände raus. Sie fängt wieder zu unterrichten an, auch das Netz hat sie wieder, und das Märchen vom Stricken im Internet nimmt seinen Lauf. Millionen spielen plötzlich mit, obwohl es größere Gegensätze kaum zu geben scheint: Alt und Neu, Vergangenheit und Zukunft, langsam und schnell - Stricken und Internet scheinen natürliche Gegensätze, aber sie passen erstaunlicherweise gut zusammen.

Wollwerk & Wohlstand

Stricken war sinnvoll, als man damit warme Kleidung selbst herstellen musste, statt sie teuer zu kaufen - eine gebotene Sparmaßnahme nach zwei ruinösen Weltkriegen. Entsprechend schnell verschwand das Wollwerk aus den Kleiderkästen, als der Wohlstand mit einer Mode für alle und mit internationalen Labels einkehrte. Erst in den 80er Jahren wurde die Handarbeit mit Wolle und Nadel wiederbelebt, als eine neue "grüne" Bewegung alternativ zu überteuerter und ausbeuterisch produzierter Fabrikmode auf traditionelle heimische Produktionsformen hinweisen wollte. Selbstgestrickte Unikate wurden zum Ausdruck von Individalität hochgedeutet und als Zeichen der Solidarität mit unterdrückten Näherinnen in Südostasien geadelt.

In den USA wird Stricken heute als das neue Yoga bezeichnet und von Hollywoodstars wie Julia Roberts und Cameron Diaz beworben; für Flüchtlinge wird aktuell "Stricken in der Kirche" angeboten - alles nachzulesen im Internet auf Homepages wie "Wollust" oder "Strickrausch". Elizza nennt ihre Seite "Nadelspiel".

Die Homepage ist so etwas wie ihr Mutterschiff im digitalen Geleitzug. Auf Facebook werden weitere Abonnenten betreut, und YouTube ist der Musikdampfer für die Massen. Auf der Homepage werden die neuesten Videos von ihren treuesten "Schäfchen", wie Elizza die eingefleischten Follower nennt, schon begierig zum Ausprobieren erwartet. Hinter dreihunderttausend Besuchen im Monat stecken zweihunderttausend lebende Menschen, deren Bewegungen im Netz von Elizza mit Hilfe eines speziellen Programms minutiös beobachtet und verfolgt werden: Wie oft, wie lange, wie viele Seiten und welche hat jemand angeschaut? Hat eine "Sie" abgebrochen oder hat ein "Er" sich verlaufen und kommt vielleicht noch einmal zurück?

In der durchgängig englischen Fachsprache sind das Hits und Clicks, Visitors, Page Impressions und Navigations. Vergleichbares ist noch differenzierter bei YouTube abrufbar, wo im Umfeld von Elizzas Clips mit ihren Millionen Besuchern inzwischen auch Werbung geschalten wird.

Beim Chatten auf entsprechenden Fenstern der Homepage spielt sich aber auch ein reges Gefühlsleben der "Schäfchen" ab, wenn man Kontakten im Internet ein solches überhaupt zugestehen mag. Elizza bezieht einen großen Teil ihrer Motivation daraus und organisiert leibhaftige Treffen, zu denen regional bis zu hundert Strickende kommen, überwiegend Frauen. In Großstädten wie Frankfurt sind es mitunter über tausend, und ein "Wollfestival" in Leipzig, auf dem Elizza die eingeladene Attraktion war, hatte sechstausend Besucher in einer überfüllten Messehalle.

Im Wiener Burggarten war es neulich nur ein gutes Dutzend, und bei meinem kurzen Besuch fiel mir auf, dass zwar alle Teilnehmerinnen mit Wolle und Nadeln an den Fingern bewaffnet waren, aber kaum strickten. Stattdessen wurde munter getratscht wie auf einem Marktplatz bei Sonne, und meine Frage nach diesem vermeintlichen Missverhältnis bekam eine aufschlussreiche Antwort: "Stricken können wir doch daheim!"

Noch etwas fiel auf: Wie Elizza selbst kommen viele ihrer "Schäfchen" zum Stricken, wenn das Leben ihnen eine Entschleunigung abverlangt, sei es aufgrund von Schwangerschaften, Krankheiten, Krisen oder der Behinderung eines Angehörigen. Immer geht es nach einem schicksalhaften Einschnitt langsamer zu als gewöhnlich, und der damit verbundene Rückzug von gewohnten sozialen Kontakten wird zum Teil von den mitstrickenden "Schäfchen" und ihrer charismatischen Hirtenfrau aufgefangen. Was früher nach ihren beruflichen Kurzkontakten in der Werbung schnell wieder abgerissen sei, finde ausgerechnet im Internet Kontinuität und Verlässlichkeit, sagt Elizza.

Neue Aufgaben

Das Herrschaftswissen über ihre ziemlich gläsernen "Schäfchen" auszunutzen, kommt ihr dabei nicht in den Sinn, aber natürlich fragt man bald einmal, ob sich die Millionen Kontakte gleichermaßen in Euro auszahlen. Elizza sagt: nein. Sie wolle Leidenschaft und Hobby nicht ausschlachten, sondern nur so viel tun, wie sie selbst leisten kann, und keine drei Angestellten haben, sonst gingen achtzig Prozent der eigenen Energie in die Verwaltung, die nicht ihre Stärke sei.

Ein bisschen Werbung bei YouTube und ein paar andere Einnahmen sollen die Betriebskosten decken, mehr nicht. Andere Einnahmen bestehen aus Seminaren und Verkäufen von DVDs und Büchern an jene, die sich nicht für jede kleine Frage durch Tausende von Clips zappen wollen. Auch diese Geschäfte erreichen Auflagen von Bestsellern, und so wundert es nicht, dass ab und zu ein Großer der Internetbranche bei Elizza anklopft, um ihr Nadelspiel zu kaufen. Noch hat sie abgelehnt - und widmet sich neuen Aufgaben: Für "Gartenspiel" hat sie auf ihrer Terrasse in Kritzendorf eine Nachtsichtkamera aufgestellt und beobachtet Rehe beim Abendessen. Demnächst auf YouTube.

www.nadelspiel.com