Für Kenneth Clarke ist der EGMR zu einem Berufungsgericht verkommen.
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"Wiener Zeitung": Die britische Regierung will den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) reformieren, warum denn das?Kenneth Clarke: Wir möchten, dass er nicht mehr unter zehntausenden Fällen begraben wird, die entweder nichts mit der Europäische Menschenrechtskonvention zu tun haben, dasselbe Thema zum wiederholten Mal aufbringen oder von den nationalen Gerichten bereits ordnungsgemäß und unter Anwendung der Konvention entschieden wurden. Für einige ist der EGMR einfach nur eine weitere Berufungsinstanz geworden.
Aber das ist doch eine Grundvoraussetzung: Der EGMR kann nur angerufen werden, wenn der nationale Instanzenzug ausgeschöpft wurde, es im Land also keine Berufungsmöglichkeit mehr gibt.
Ja, aber wie viele Berufungsmöglichkeiten wollen sie denn haben? Irgendwann muss ein Fall doch abgeschlossen sein. Der EGMR ächzt unter der Masse an Fällen. Derzeit haben wir 150.000 in der Warteschlange. Jedes Jahr werden dem Gericht mehrere tausend Fälle übermittelt; das kann aber nur 2000 pro Jahr anhören.
Wäre eine einfache Reduzierung nicht problematisch?
Sehr oft geht es den Leuten nur noch darum, einen weiteren Versuch starten, eine Entscheidung zu erhalten, die ihnen gefällt. Dafür wurde das Gericht in Straßburg nicht geschaffen. Es sollte vielmehr prinzipielle Entscheidungen darüber fällen, wie die Konvention angewendet werden soll. Wir glauben, der EGMR sollte ein vernünftiges internationales Gericht sein, in dem Themen von internationaler Bedeutung behandelt werden.
Wird sich der einzelne nicht mehr an den EGMR wenden können?
Doch, wenn der Staat es verabsäumt hat, seine Verpflichtungen gemäß der europäischen Menschenrechtskonvention zu erfüllen. Aber dabei soll es nur um ernste Fälle gehen, die neue und schwerwiegende Themen aufbringen. Die Masse an Fällen muss reduziert werden, dann wäre der EGMR mächtiger und effizienter.
Sie möchten also die Themen reduzieren, mit denen sich der EGMR befassen soll?
Ja, er sollte nur die großen, wichtigen Fälle behandeln und nicht einfach eine vierte Berufungsinstanz sein. Österreich hat schon vor ein paar Jahren mit einigem Erfolg versucht, den EGMR zu reformieren. Seither haben wir ein neues System, das einiges an Flut an Fällen eliminiert hat, aber diese Reform geht unserer Meinung nach nicht weit genug.
Welche Zuständigkeit würden Sie dem EGMR denn gerne konkret entziehen?
Es gibt Fälle, die schon jetzt ganz offensichtlich nicht in die Zuständigkeit fallen - daran arbeiten wir. Dann gibt es die Wiederholungsfälle: hunderte, tausende Fälle, die sich um ein und dasselbe Thema drehen. Hier könnte Straßburg einmal einen Fall entscheiden und so einen Präzedenzfall schaffen. Wir möchten auch nicht, dass die Fälle an Straßburg gehen, die von einem nationalen Gericht entschieden wurden und bei denen niemand die Befolgung der Konvention in Frage stellt.
Wo wollen Sie die Grenze ziehen?
Es hat schon immer einen Ermessensspielraum gegeben, innerhalb dessen die Nationalstaaten ihre eigenen Gerichte mit einem Fall betrauen können. Das war schon immer eine Regel, sie sollte nur strikter befolgt werden. Also, dass die nationalen Gerichte die Konvention anwenden und nicht routinemäßig an Straßburg weitergereicht wird.
Öffnen sich damit nicht Schlupflöcher für spezielle Länder, beispielsweise für Russland, das mit Abstand die meisten Verurteilungen zu verzeichnen hat?
Es geht ja eben nicht nur darum, dass wir in Österreich oder Großbritannien unsere eigenen Standards für Menschenrechte einhalten, sondern dass wir auch sicherstellen, dass unsere Nachbarn ein Niveau halten, das wir für freie Demokratien wünschenswert erachten. Daher ist es wichtig, dass Straßburg effizient wird und sich mit ernsten Vergehen beschäftigen kann. Die Ukraine hat auf dem Gebiet der Menschenrechte noch einen weiten Weg vor sich und daher ist es auch wichtig, dass sich die Ukrainer an den EGMR wenden können, aber ich möchte sie trotzdem davon abhalten, sich dorthin mit kleineren Fällen zu wenden, die sie bei sich verloren haben und bei denen sie vielleicht ein paar hundert Euro Entschädigung erhalten würden.
Haben Sie nicht Angst, dass Ihnen dieser Reformschritt wieder als britische Isolierung von Europa ausgelegt wird?
Ich bin mir der Gefahr britischer Isolierung absolut bewusst. Aber der Premierminister, der Außenminister und auch ich selbst, wir haben wiederholt klargemacht, dass wir starke Unterstützer der Europäischen Menschenrechtskonvention sind. Es waren britische Juristen wie der - konservative - David Maxwell Fyfe, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben haben. Wir haben keine Absicht, sie außer Kraft zu setzen oder uns vom Gericht zurückzuziehen.