Nach dem katastrophalen Ende des Geiseldramas von Beslan sind gestern in Moskau 130.000 gegen den Terrorismus auf die Straße gegangen. Russlands Präsident Wladimir Putin, der zunehmend unter Kritik gerät, beharrt indes auf seiner Strategie der Härte: Keine parlamentarische Untersuchung, keine Verhandlungen mit "Kindermördern".
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"Russland gegen den Terror", stand auf großen Tafeln in den Farben der Landesflagge zu lesen. Mehrere Menschen hielten Plakate mit Sprüchen wie "Gegen Kinder kämpfen nur Schufte und Feiglinge" in die Höhe: Mit der vom Kreml und der Moskauer Stadtverwaltung organisierten Großkundgebung in der Hauptstadt versuchte Putin den Volkszorn zu kanalisieren, der sich zunehmend auch gegen die das Vorgehen der Behörden und deren Informationspolitik wendet.
Auf dem politischen Parkett illustrierte der Präsident, der wegen der Ereignisse im Kaukasus seinen für Freitag und Samstag geplanten Deutschland-Besuch absagte, indes den von ihm angekündigten harten Kurs. Eine parlamentarische Untersuchung des Beslan-Massakers lehnte er ab. Eine derartige Maßnahme sei "unproduktiv" und berge die Gefahr, für eine "politische Show" missbraucht zu werden. Vielmehr werde man den Ablauf der Geiselbefreiung, bei der offiziell 335 Menschen, darunter 307 Kinder starben, intern aufarbeiten.
Dann schloss er erneut kategorisch Verhandlungen mit tschetschenischen Separatisten aus. Der britischen Zeitung "The Guardian" sagte Putin unter Bezugnahme auf Anfragen aus europäischen Ländern: "Warum sollten wir mit Kindermördern verhandeln?" Niemand habe das Recht, dies zu verlangen: "Warum trifft man sich nicht mit Osama bin Laden, lädt ihn nach Brüssel oder ins Weiße Haus ein und spricht mit ihm, fragt ihn, was er will, und gibt es ihm, so dass er in Frieden geht?"
Putins harten Kurs sollte zudem ein verhafteter mutmaßlicher Geiselnehmer untermauern, der im Fernsehen den tschetschenischen Terroristen Shamil Bassajew und der Separatistenführer Aslan Maschadow als Drahtzieher des Verbrechens bezeichnete. Zweiterer hatte jedoch kategorisch jeden Zusammenhang mit der Tragödie abgestritten und im Internet einen Appell an die Geiselnehmer publiziert, tunlichst von Gewalt gegen Kinder abzusehen.
Auch international wird der Aufklärungsdruck höher. Unter Versicherung seiner Solidarität mit Russland forderte nun auch der französische Premier Jean-Pierre Raffarin alle notwendigen Informationen" und erinnerte "an die Notwendigkeit, die Menschenrechte zu respektieren". Als die niederländische Ratspräsidentschaft im Namen der Europäischen Union am Wochenende gefordert hatte, zu erfahren, "wie diese Tragödie passieren konnte", reagierte das russische Außenminiserium mit Empörung.
Die Opposition, russische Medien und die Bevölkerung von Nordossetien hatten indes eine öffentliche Untersuchung der Vorfälle gefordert. Journalisten, die vom wahren Ausmaß der Vorfälle berichteten, bekamen umgehend den langen Arm des Kremls zu spüren. Prominentestes Opfer ist "Iswestija"-Chefredakteur Raf Schakirow, der ob seiner schonungslosen Berichterstattung zurücktreten musste.
Die staatlichen Fernsehsender, auf dessen Material sich die internationalen Berichte zum Teil stützten, durften ihr Material in Russland kaum verwenden. Zwei georgische Reporter und der Leiter des "Al Arabiya"-Büros in Moskau wurden festgenommen.
Scharfe Kritik der Opposition
Selbst wenn Putins Rückhalt in der Bevölkerung etwas sinken sollte, wird er wegen der Vormachtstellung seines Lagers im Parlament nicht geschwächt, sind Experten sicher. Die Opposition übte jedoch scharfe Kritik: "Putin hat das Mandat gewonnen, um die die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten. Wir sehen heute, dass er das Mandat verletzt hat", meinte der unabhängige Abgeordnete Wladimir Ryschkow.
Der bekannte liberale Politiker Boris Nemzow befürchtet, dass die Regierung die Bedrohung durch den Terror als Entschuldigung nehmen wird, um sich noch mehr Machtbefugnisse einzuverleiben. "Das erste Mal seit Jahren habe ich das Gefühl, dass sich das Land in Richtung einer Diktatur bewegt", beklagte sich Nemzow. "Wladimir Putin kam an die Macht mit dem Angebot: Lasst uns einige unserer Freiheiten aufgeben für mehr Sicherheit. Nach Jahren unter seiner Führung gibt es nun weniger Freiheiten - und weniger Sicherheit".