Laut Aufstellung des österreichischen Innenministeriums sind im ersten Halbjahr 2003 2.107 illegale russische Einwanderer an der Grenze aufgegriffen worden. Das sind so viele wie im gesamten Jahr 2002. Bei einem Großteil der Flüchtlinge handelt es sich um Tschetschenen, die dem Krieg in ihrer Heimat entkommen wollen. Hintergrund für dem plötzlichen Anstieg der Aufgriffe entlang der österreichisch-tschechischen Grenze: In den vergangenen Wochen haben hunderte tschetschenische Flüchtlinge die Asylantenheime in Tschechien verlassen und bei Nacht die EU-Schengengrenze überquert, um in Österreich politisches Asyl zu beantragen.
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"Hunderte von tschetschenischen Flüchtlingen sind bereits aus unseren Asylantenheimen geflohen", bestätigt auch Tomas Haisman aus dem tschechischen Innenministerium auf Anfrage der "Wiener Zeitung". "Sie überqueren die 'Grüne Grenze' im Bereich Znaim, Breclav und Mikulov. Dorthin gelangen sie normalerweise mit dem Zug, dem Taxi oder zu Fuß. Die Flüchtigen überschreiten die Grenze im Schutz der Dunkelheit und marschieren in kleinen Gruppen, meistens im Familienverband", berichtet Roman Skrepek, Sprecher der Fremdenpolizei in Brünn.
Die tschechische Polizei selbst kann nur einen sehr geringen Teil der illegalen Grenzgänger aufgreifen. "Mit Sicherheit wissen wir nur von 63 Menschen, die in den letzten drei Monaten versucht haben, illegal nach Österreich zu kommen. Die wirkliche Anzahl der Grenzübertritte kennen wir nicht. Wenn wir Verdächtige Personen in der Nähe der Grenze anhalten, können wir nur ihre Dokumente prüfen. Mehr Möglichkeiten haben wir nicht", beklagt Skrepek.
Die meisten Migranten suchen ihr Glück in Österreich, weil sie der Ansicht sind, dass die hiesigen Behörden sie nicht automatisch zurückschicken.: "Nur 13 Flüchtlinge sind in den letzten Wochen aus Österreich nach Tschechien abgeschoben worden, die anderen konnten im Land bleiben und um Asyl ansuchen", weiß der Sprecher der Brünner Fremdenpolizei.
Hoffnung auf ein besseres Los in Österreich
Ein weiterer Grund für die Massenflucht nach Österreich besteht darin, dass es hier bereits eine starke tschetschenische Gemeinschaft gibt, die den Neuankömmlingen hilft, Fuß zu fassen. "Die tschetschenischen Flüchtlinge hegen in der Tat die Hoffnung, dass sie es in Österreich leichter haben werden, als in der Tschechischen Republik. Sie sind der Ansicht, dass sie hier leichter Asyl bekommen", bestätigt auch Pavel Porizek von SOZE, einen tschechischen Nicht-Regierungsorganisation (NGO), die sich um Emigranten kümmert.
Die tschechischen Behörden führen andere Gründe für den zunehmenden Exodus nach Österreich an. "Den Tschetschenen geht es nicht in erster Linie um Asyl, sie sind vor allem auf einen möglichst hohen Lebensstandard aus", meint Tomas Haisman aus dem tschechischen Innenministerium. Und will für seine Behauptung auch Beweise haben: "Manche der illegalen Grenzgänger haben bereits in der Tschechischen Republik Asyl erhalten. Trotzdem haben sie sich in Richtung Schweiz oder Belgien aufgemacht. Das zeigt doch klar, dass ihr Zielland nicht die Tschechische Republik war, sie wollten von Anfang an bei uns kein Asyl." Wie viele Tschetschenen genau in Tschechien um Asyl ansuchen, ist vom Innenministerium in Prag aber nicht zu erfahren. In den Statistiken werden sie als "Russen" geführt.
Die Chance für Flüchtlinge aus Tschetschenien, tatsächlich in der Tschechischen Republik Asyl zu erhalten, sind in Wirklichkeit verschwindend gering: Seit 1990 haben es nur 150 geschafft (inklusive der 40 Tschetschenen, die dieses Jahr Asylrecht erhielten). Durchschnittlich dauern die einschlägigen Verfahren zwei Jahre.
"Die Leute wollen einfach wie normale Menschen leben, sie haben schreckliche Erfahrungen aus dem Krieg hinter sich, sie sind traumatisiert und seelisch verwundet. Es ist doch logisch, dass sie dorthin gehen, wo sie sich die größten Chancen auf Asyl ausrechnen", verteidigt der Rechtsanwalt Pavel Porizek die Massenflucht aus tschechischen Asylantenheimen. Das Innenministerium in Prag beurteilt die Motive der Tschetschenen indes weit weniger wohlwollend: "Der Sachverhalt ist auch von den auf Behörden auf der österreichischen und deutschen Seite längst klar gestellt. Die Tschetschenen beschweren sich in Österreich über die schlechten Zustände in den tschechischen Asylantenheimen. Aber wenn sie zuvor aus Polen zu uns kommen, beklagen sie sich über die angeblich miserablen Zustände in den polnischen Asylantenheimen", meint Tomas Haisman aus dem Prager Innenministerium.
Unzumutbare Bedingungen in Polens Asylantenheimen?
Nicht-Regierungsorganisationen weisen allerdings darauf hin, dass in den polnischen Heimen in der Tat unzumutbare Bedingungen herrschen. "Vor allem die rechtliche Beratung und die Versorgung mit Medikamenten sind in Polen sehr viel schlechter als bei etwa uns", so der Flüchtlings-Anwalt Pavel Porizek.
Eine Abschiebung nach Tschetschenien kommt für die tschechischen Behörden derzeit jedenfalls nicht in Frage. In der Vergangenheit wurde zwar erwogen, den Flüchtlingen zwischen 1000 und 3000 US-Dollar plus ein Retourticket auszuhändigen. "Das wurde aber so heftig von den verschiedenen NGOs kritisiert, dass der Plan in der Schublade verschwunden ist. Die politische Situation, die in Tschetschenien herrscht, hat die Behörden doch noch überzeugt, die Flüchtlinge nicht zurückzuschicken", meint Lucie Sladkova, Direktorin des Tschechischen Flüchtlingswerkes.