Bootsunglück mit hunderten Vermissten. EU-Initiative fordert einen "Marshallplan" für Afrika.
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Brüssel. Ihre Reise startete wohl in Nordafrika, glaubt man ersten Berichten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der griechischen Küstenwache. Aus welchen Ländern die Flüchtlinge stammen, ist nicht klar. Schon am Donnerstag war das Boot mit mindestens 700 Personen an Bord an der Grenze der Hoheitsgewässer von Griechenland und Ägypten in Seenot geraten, meldeten in der Nähe befindliche Schiffe, die den Flüchtlingen zu Hilfe kamen. Am Freitagmorgen kenterte das Boot schließlich, knapp 140 Kilometer vor der Küste von Kreta. Die griechische Küstenwache startete einen Großeinsatz, 340 Menschen konnten gerettet werden, vier Leichen wurden geborgen. Hunderte werden noch vermisst.
Allein seit Jahresbeginn kamen aktuellen Zahlen des IOM zufolge 205.509 Personen in Booten über das Mittelmeer, über 2400 bezahlten die riskante Überfahrt mit dem Leben, 700 waren es letzte Woche. Im vergangenen Jahr forderte die Fluchtbewegung über das Mittelmeer 5000 Todesopfer. Wie viele Menschen auf Schlepperbooten in den letzten Jahren ums Leben kamen, ist unklar. Schätzungen gehen von mindestens 30.000 Toten in den vergangenen 15 Jahren aus. Das Mittelmeer ist längst zu einem riesigen Friedhof geworden.
100 Millionen Euro gefordert
Europa hat sich an das Massensterben vor den Mittelmeerküsten gewöhnt. Doch obwohl seit vielen Jahren Hunderttausende über das Mittelmeer kommen, steht der größte Teil der Fluchtbewegung wohl erst bevor. Weltweit sind laut UNHCR 60 Millionen Menschen auf der Flucht, allein im von Chaos geplagten Libyen warten laut IOM 200.000 Menschen auf eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Europa. Die internationale Polizeibehörde Europol spricht gar von 800.000 Flüchtlingen in Libyen.
Im Inland des afrikanischen Kontinents zählen NGOs bis zu 15 Millionen Vertriebene. Weitaus mehr Tote als im Mittelmeer dürften die Fluchtetappen rund um die Sahara-Regionen fordern: eine Studie der deutschen Hanns Seidel Stiftung beziffert die Zahl derer, die bereits auf dem Weg Richtung nordafrikanische Küste den Tod fanden, mit eineinhalb Millionen. Afrika und dessen zahlreiche militärische Konflikte und politisch-humanitäre Krisen jedoch gerät dennoch nur zaghaft in den Fokus der europäischen Politik.
Nun aber werden immer mehr Stimmen laut, die ein nachhaltiges und strukturelles Engagements Europas in Afrika verlangen, um der Bevölkerung in den dortigen Krisenregionen eine Perspektive zu ermöglichen. "Europa retten heißt Afrika retten" - unter diesem Motto lud der österreichische EU-Parlamentarier Heinz K. Becker vergangene Woche zu einer internationalen Expertenkonferenz, die als Anstoß für die Entwicklung eines, wie Becker sagt, "europäischen Marshallplans für Afrika" dienen soll.
"Der enorme Bevölkerungsdruck in den afrikanischen Staaten korreliert nicht mit dem teilweise durchaus aufkommenden Wirtschaftswachstum", ist Becker überzeugt. Ziel müsse es deshalb sein, nachhaltige Arbeitsplätze in den Herkunftsländern zu schaffen. Dass sich vor allem junge Menschen auf die Flucht begeben weiß auch Carla Montesi, als Direktorin für Entwicklungskoordination für West- und Zentralafrika zuständig. 400 Millionen Arbeitsplätze müssten, so Montesi, bis 2050 für junge Menschen in Afrika geschaffen werden.
Der "Marshallplan", wie ihn Becker will, solle nach dem Vorbild des EU-Fonds für strategische Investments aufgestellt werden. Mit dem US-finanzierten Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg will Dieter Stiefel, Wirtschaftshistoriker an der Universität Wien und Marshallplan-Experte, das geplante Projekt für Afrika nicht direkt vergleichen. Vorbild könne dieser trotzdem sein: einzelne nationale Hilfsprogramme seien damals zugunsten eines großen Investitionsplans aufgegeben worden. Würde man die damals aufgewendeten Mittel auf heute umlegen, würde dies ein Volumen zwischen 100 und 700 Milliarden Euro bedeuten. Die herkömmliche Entwicklungshilfe sei nicht in der Lage, die strukturellen Probleme des Kontinents zu lösen. Sie sei zu wenig koordiniert, sagt Becker. Die europäischen Gelder seien keineswegs nur altruistisch gedacht: der "Marshallplan" bedeute eine "Investition in die Zukunft" und würde Europa wirtschaftliche Vorteile bringen.
Italien drängt auf Afrika-Hilfe
Das Vorhaben des EVP-Parlamentariers ist freilich erst in den Kinderschuhen. Beckers Ambitionen und die des ÖVP-Delegationsleiters im Brüssler Parlament, Othmar Karas, gehen aber noch viel weiter. Der "Marshallplan für Afrika" könne nur ein Teil eines Gesamtplans für Afrika sein, Aufgabe der EU müsse es sein, die Initiative zu ergreifen. Geht es nach Karas, könnte die Initiative schon bei der UNO-Generalversammlung im September vorgestellt werden.
Unterstützung bekommt die europäische Initiative vor allem aus Italien. Regierungschef Matteo Renzi steht vor den kommenden Regionalwahlen in Rom, Neapel, Turin und Mailand unter Druck, die Lega Nord will sich die "Einwanderungswelle nicht bieten lassen".
Renzi kämpft um sein politisches Überleben. Die italienische Regierung will nun zu den bereits bestehenden Hotspots weitere mobile Registrierzentren in Apulien, Kalabrien und Sizilien errichten. Auf europäischer Ebene drängt Renzi auf die Finanzierung von Entwicklungsprojekten in Afrika. Auch der Mailänder Erzbischof, Kardinal Angelo Scola, fordert in einem Zeitungsinterview einen "Marshallplan" für Afrika.
Am Freitag wurden vor der Küste Libyens mindestens hundert Leichen angespült. Unklar blieb zunächst, ob darunter auch Flüchtlinge des am Freitag gekenterten Boots waren. Es ist zu befürchten, dass die Flucht über das Mittelmeer noch zahlreiche weitere Opfer fordern wird, bis eine europäische Initiative in Afrika wirksam wird.