Für zeitnahe Diagnosen und Behandlungen muss man immer häufiger in die Wahlarzt-Ordination. Fast zwei Drittel der Fachärzte arbeiten mittlerweile in einer Ordination ohne Kassenvertrag - Tendenz stark steigend.
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Und schon wieder ist es passiert: Patientenanwalt Gerald Bachinger erreicht am Tag, als er mit der "Wiener Zeitung" ein Gespräch führt, eine Beschwerde eines Niederösterreichers. Wegen der Kontrolle seiner Hautprobleme wollte er wie in den vergangenen Jahren auch einen Termin im Wiener Neustädter Landesklinikum vereinbaren. Dieses Mal ohne Erfolg: Dem Patienten wurde mitgeteilt, er möge sich an einen niedergelassenen Hautarzt wenden.
Also kontaktierte der Mann wegen seines Hautproblems zwei Kassenärzte. Mit dem Ergebnis: Einer bot ihm einen Termin im Dezember 2020, der zweite schlug ihm einen im Jänner 2021 vor. Bei einem hieß es zudem, hätte er eine private Krankenversicherung, könne er bereits in zwei Wochen in die Ordination kommen. Auch bei Hals-Nasen-Ohren-Ärzten im Bezirk Baden habe er auf Termine warten müssen, und seine Tochter sei bei der Suche nach Kinderärzten mit Kassenvertrag für die Enkel erfolglos gewesen. Sein Schluss: "Unser Gesundheitssystem hat sich echt katastrophal entwickelt."
"Massiver Anstieg" bei Wahlarzt-Ordinationen
Bachinger gibt dem Mann recht. Die Beschwerde ist kein Einzelfall, das Problem auch nicht auf den Bezirk Baden beschränkt. "Solche Fälle gibt es zahlreich - Tendenz steigend." Der IHS-Gesundheitsökonomen Thomas Czypionka bestätigt dies und berichtet von "einem massiven Anstieg der Wahlärzte in ganz Österreich". Er hat die Entwicklung von Wahl- und Kassenärzten für den Rechnungshof analysiert. Die Standesmeldungen der Ärztekammer zeigen, dass die Anzahl der Fachärzte ohne Kassenvertrag im Zeitraum von 2010 bis 2018 um sieben Prozentpunkte auf 64 Prozent aller Fachärzte mit einer Ordination angestiegen ist. Besonders stark war der Zuwachs in Oberösterreich, und zwar um 13 Prozentpunkte auf 69 Prozent aller Facharzt-Ordinationen und in Wien um zwölf Prozentpunkte auf 64 Prozent. In Niederösterreich ging der Anteil an Wahlfachärzten zwar um zwei Prozentpunkten zurück, mit einem Anteil von 71 Prozent aber stehen jene, die in diesem Bundesland Diagnose und Behandlung benötigen, vor der Qual der Wahl, entweder tief in die Tasche zu greifen oder in Kauf zu nehmen, dass es bei Ärzten mit Kassenvertrag schon vor bei der Terminvereinbarung heißt: Bitte warten!
Selbst in der Allgemeinmedizin, wo bis vor kurzem noch mehrheitlich Ärzte mit Kassenverträgen vertreten waren, arbeiten mittlerweile 40 Prozent, die ohne Kassenverträge arbeiten, in Wien liegt der Anteil bei 47 Prozent.
Wahlarzt ist nicht gleich Wahlarzt
Czypionka weist allerdings darauf hin, dass Wahlarzt nicht gleich Wahlarzt sei: "Manche arbeiten nach ihrer Pensionierung einige Stunden weiter." Unter den Wahlärzten für Allgemeinmedizin seien auch viele mit alternativmedizinischen Angeboten, also eine Ergänzung, aber kein Ersatz für jene mit klassischem Angebot auf Kasse. Noch wichtiger ist es dem Arbeitnehmerobmann der Österreichischen Gesundheitskasse, Andreas Huss, darauf hinzuweisen, dass man nicht nur "Köpfe von Wahlärzten zählen kann": "Es geht vielmehr um die Versorgungswirksamkeit der Patienten."
Am Beispiel Salzburg, wo Huss vor seiner aktuellen Tätigkeit Obmann der Gebietskrankenkasse war, zeige sich etwa folgendes Bild: Von den rund 700 Wahlärzten arbeiten circa 200 wenige Stunden neben einer Anstellung im Krankenhaus, ebenso viele, insbesondere junge Ärztinnen mit kleinen Kindern, arbeiten in den ersten Jahren nach der Geburt wenige Stunden pro Woche als Wahlärztinnen. Die Anzahl der Wahlärzte, die maßgeblich zur Versorgung der Patienten beitragen, reduziert sich in Salzburg also laut Huss auf 300.
Auch bei den Honorarabrechnungen und Refundierung zeige sich, dass 7 Prozent der Honorarsumme an Wahlärzte gehen. Weil diese 80 Prozent der Kassensätze erhalten und Patienten manch geringe Rechnung nicht einreichen, dürften also 10 bis 15 Prozent durch Wahlärzte versorgt werden.
Problematiken der Patienten durch Ärztestruktur
Wahlärzte definieren ihr Honorar unabhängig von Sätzen der Kasse. Der Anteil des bezahlten Honorars, das Patienten zurückerhalten, variiert stark und liegt zwischen 20 und 80 Prozent - weniger Ersatz gibt es häufig bei der Rechnung von Orthopäden, mehr bei Kinderärzten. Für den Großteil der Wahlarzt-Patienten sind die Kosten tragbar, ein Viertel dürfte aber ein niedriges Einkommen haben, war aus informierten Kreisen zu erfahren.
Wobei es in manchen Fachbereichen zu wenige Kassenärzte gibt, etwa in der Gynäkologie: Nicht nur, dass derzeit laut Ärztekammer österreichweit 16 Kassenstellen dieses Fachs nicht besetzt sind. Laut Huss sind es auch zu viele Frauenärzte mit Kassenstelle statt Frauenärztinnen: "Viele Frauen gehen aber lieber zu Gynäkologinnen, wählen deshalb die Wahlärztin als Alternative."
Die Kasse besetze Stellen derzeit bei gleicher Qualifikation deshalb mit Ärztinnen. Das hat aber Grenzen: Denn die Reihung bei den Wartenden müsse grundsätzlich geschlechtsneutral bleiben, und bei einem Frauen-Männer-Verhältnis von 50:50 sei Schluss.
Zu den durchschnittlichen Wartezeiten waren bis Redaktionsschluss keine aktuellen Daten aufzutreiben. Eines ist aber gewiss. Zusatzversicherten einen zeitnaheren Termin anzubieten, so wie der Patient in Baden das dem Patientenanwalt schildert, ist quasi ein unmoralisches Angebot. Huss: "Das ist Kassenärzten verboten."