Australiens Ex-Premier Kevin Rudd rät Europa zu mehr Reflexion und sieht China vor allem mit sich selbst beschäftigt.
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"Wiener Zeitung": Australien, das Land, in dem Sie - mit einer Unterbrechung - von 2007 bis 2013 Premierminister waren, hat die Gnade der Geografie. Der Kontinent ist von den aktuellen Krisenherden in der Ukraine oder im Nahen Osten weit entfernt. Wie beurteilt man in Australien - sozusagen aus der Distanz - die Lage?
Kevin Rudd: Die internationale Ordnung steht unter erheblichem Druck. Sie tut das nicht nur hier in Europa, sondern auch in der asiatischen Hemisphäre. Die Frage für die internationale Gemeinschaft ist nun, wie wir die Brüche im System am besten behandeln. Ich glaube, es ist möglich, das zu schaffen.
Sie haben Probleme in der asiatischen Hemisphäre angesprochen. Wo sehen Sie da den größten Druck?
In Asien haben wir mit Abstand mehr aktuelle territoriale Auseinandersetzungen als in Europa. Wir haben territoriale Auseinandersetzungen zwischen Nuklearstaaten, eine geteilte koreanische Halbinsel, einen Konflikt quer über die Straße von Taiwan, dazu kommen Probleme im Ostchinesischen Meer, im Südchinesischen Meer und der immer wieder aufflackernde territoriale Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Zusätzlich gibt es noch wachsende Nationalismen überall in Asien. Nichtsdestotrotz haben wir den Frieden bisher aufrechterhalten. Und das ist zum Teil ein Erfolg des internationalen Systems. Doch dieses System steht unter Druck, ist teilweise zu schwach oder unzeitgemäß. In Asien muss dieses System dringend mit robusteren Institutionen ergänzt werden.
Vor welchen Herausforderungen steht Europa aus Ihrer Sicht?
Eines möchte ich zu Europa sagen, bevor alle auf diesem Kontinent in totalen Pessimismus verfallen: Denken Sie darüber nach, was Sie bisher erreicht haben. Mit der Konstruktion der Europäischen Union sind fünf Jahrhunderte mit beinahe endlosen Kriegen zwischen den Großmächten Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien für immer Geschichte. Europa hat das durch ein politisches Konstrukt geschafft, das bescheiden begann und sich immer weiter entwickelte. Heute ist es unvorstellbar, dass es jemals wieder einen Krieg zwischen Deutschland, Großbritannien oder Frankreich geben wird. Aus einer historischen Perspektive ist das ein außergewöhnlicher, bemerkenswerter Erfolg. Es gibt eine große Gefahr, diesen großen Kontext angesichts der aktuellen Herausforderungen zwischen Zentraleuropa und Russland aus den Augen zu verlieren. Die Herausforderungen sind kontrollierbar und machbar, wenn auch schwierig, aber die Probleme in der Ukraine sind nicht das Ende der Weltordnung. Dieses in manchen Ecken Europas vorherrschende Denken bezeichne ich als maßlos modischen Pessimismus.
Asien entwickelt sich unglaublich rasant, China ist der Angelpunkt und Eckpfeiler des Kontinents und wird bald die größte Volkswirtschaft der Welt sein, hat aber auch eigene Probleme, wie wachsenden Nationalismus.
Um den Chinesen nicht unrecht zu tun: Nationalismus ist kein alleinig chinesisches Phänomen. Trotzdem wurden die Nationalismen bisher gelenkt und zurückgehalten. Die chinesische Führung versteht ganz genau, dass ihr ein militärischer Konflikt, an dem China beteiligt ist, genauso wenig nutzt wie der ganzen Region. In China gibt es einen sehr nüchternen Blick auf die Zukunft des asiatischen Kontinents. Chinas wichtigste Priorität ist, die Wirtschaft zu entwickeln. Das Land ist in einer Periode massiver Umwälzungen. In dieser Situation will China keinen regionalen Konflikt, der diesen Transformationsprozess unterbricht. Die Herausforderung ist nun, die verschiedenen Nationalismen zu handhaben, ohne dass wir - nicht absichtlich, aber zufällig - in einem Konflikt landen. Dazu brauchen wir ausreichend vertrauensbildende Maßnahmen in der Region. In Europa, wo Ihr alle so pessimistisch seid, habt Ihr die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und die Europäische Union. Es gibt Institutionen und Strukturen und eine belastbare Friedensarchitektur. In Asien haben wir nichts dergleichen. Ich bin ein aktiver Unterstützer einer Asien-Pazifik-Gemeinschaft, in der es einen wachsenden Sinn für gemeinsame Sicherheit, Wohlstand und Umweltprobleme gibt.
Welche Rolle wird China bei der Schaffung einer solchen Sicherheitsarchitektur spielen?
Man muss bedenken, dass Chinas Interessen großteils von seiner inneren Agenda diktiert werden. Was wir nicht vergessen dürfen: Mehr als ein Fünftel der Menschheit lebt in China. Chinas Führung ist aufgrund des Erfolgs ihrer Wirtschaftspolitik beinahe alleinig verantwortlich für das Sinken der globalen Armut in den vergangenen 15 Jahren. Auf diesem Weg hat Peking aber auch eine riesige Herausforderung für die Umwelt geschaffen, die inzwischen auch im Fokus der Politik Pekings liegt. Xi Jinping versucht, die Kommunistische Partei mit dem größten Antikorruptionsprogramm in der Geschichte des Landes zu säubern. Chinas Prioritäten liegen in der Innenpolitik.
Was ist Ihr Eindruck von Chinas Präsident Xi Jinping und der neuen chinesischen Führung?
Xi Jinping ist der stärkste chinesische Politiker seit Deng Xiaoping. Er glaubt an den Erhalt des aktuellen politischen Systems. Sein Rezept dafür ist erstens das Aufräumen in der Kommunistischen Partei. Zweitens setzt er auf weiteres Wirtschaftswachstum, aber unter besserer Berücksichtigung der Umwelt.
Australien hat enge Geschäftsbeziehungen mit China, ist aber auch ein enger Verbündeter der USA und Japans. All diese Länder scheinen Probleme miteinander zu haben - Australien hat aber mit jedem gute Beziehungen.
Australier sind nicht dumm. Wir sind Multitasker und wissen, wie man mehrere Dinge gleichzeitig macht. Wir entschuldigen uns nicht für unsere Allianz mit den USA, sie ist historisch tief verwurzelt. Die Chinesen wissen das und verlangen keine Ablehnung dieser Allianz von uns. Zugleich haben wir diverse wirtschaftliche Verbindungen in der Region. China ist unser größter Handelspartner, Japan ist unser zweitgrößter Partner. Neun der zehn größten Handelspartner kommen aus Asien. Mit diesem Phänomen beschäftigen wir uns schon mehr als ein Jahrzehnt.
Zur Person
Kevin Rudd war zweimal (2007 bis 2010 und 2013) Australiens Premierminister. Nach einer Niederlage seiner Labor-Partei bei den Parlamentswahlen 2013 zog er sich aus der Politik zurück. Rudd begann seine Karriere 1981 als Diplomat und war an den Botschaften in Stockholm und Peking tätig. Rudd spricht fließend Hochchinesisch und ist ein ausgewiesener Kenner Chinas. Er war bei einer Tagung des Salzburg Global Seminars und des International Peace Institutes in Salzburg zu Gast.