Der Kurdenführer und Gründer der Demokratischen Union Kurdistans hat sich beim Kampf um Unabhängigkeit verschätzt und zieht nun die politischen Konsequenzen. Das Verhältnis zu Bagdad dürfte sich dadurch entspannen.
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Bagdad. Der Druck auf Masud Barzani war dann doch zu groß. Nun hat der Kurdenpräsident seinen Rückzug erklärt. Seine Befugnisse sollen auf die Kurdische Regionalregierung (KRG), das Parlament und die Justiz übertragen werden, gab er als Vermächtnis an. Der 71-Jährige ließ eine Erklärung durch einen Vertreter der KRG im Regionalparlament in Erbil verlesen, wo am Sonntag die Volksvertreter zu einer eilens einberufenen Sondersitzung zusammengekommen waren. Zuletzt waren die für den 1. November angekündigten Präsidenten- und Parlamentswahlen in Irak-Kurdistan verschoben worden.
Fuad Aziz bringt die Stimmung auf den Punkt: "Wir Kurden sind auf dem Rückzug. Alles, was uns noch gemeinsam bleibt, ist der Friedhof." Der stellvertretende Vorsitzende der "gegnerischen" Patriotischen Union Kurdistans (PUK) lebt und arbeitet in Tuz Khurmatu, einer 60.000-Einwohner-Stadt in der Provinz Salahaddin. Sie liegt etwa 80 Kilometer von der Ölstadt Kirkuk entfernt, um die es in den letzten Wochen so viel Wirbel gab. "Was sich hier in Tuz abspielte, hätte sich bald auch anderswo wiederholen können", kommentiert er die Spannungen der letzten Tage. Nur knapp sei Kirkuk und auch andere Teile Nordiraks diesem verheerenden Szenario entgangen, das in Tuz Khurmatu schon länger Realität ist: Kurden kämpfen gegen Turkmenen und gegen Araber. Schiiten gegen Sunniten.
Jeder gegen jeden
Gerade noch rechtzeitig hat Aziz’ Partei PUK die Peschmerga-Verbände aus der Millionenstadt Kirkuk abgezogen, als die irakische Armee und die mit ihr verbündeten Schiitenmilizen im Anmarsch waren. In Tuz Khurmatu dagegen lieferten sich Peschmerga-Soldaten, irakische Armee und vor allem Schiitenmilizen blutige Kämpfe. Die über Jahrhunderte existierende Multi-Kulti-Stadt Tuz Khurmatau wurde zum Inferno. Jetzt trennt eine Mauer mitten durch die City die Volksgruppen voneinander. Familien wurden auseinandergerissen, gemischte Ehen zerbrachen, Fußballer aus Erbil und Dohuk wurden mit Steinen beworfen.
Kurdenführer Masud Barzani und seine Kurdisch-Demokratische Partei (KDP) haben sich verschätzt. Am 25. September ließen sie ihre Landsleute über ein unabhängiges Kurdistan abstimmen, einen eigenen kurdischen Staat. Dabei beschränkte sich die Volksabstimmung nicht auf die vier kurdischen Provinzen Erbil, Dohuk, Suleimanija und Halabja, die ohnehin schon weitgehende Autonomie genießen. Barzani ließ auch dort abstimmen, wo seit dem Blitzkrieg der Terrormiliz "Islamischer Staat" im Sommer 2014 die kurdischen Peschmerga-Soldaten die Kontrolle übernommen hatten. Dazu gehören Kirkuk und auch Tuz Khurmatu. Diese sogenannten "umstrittenen Gebiete" waren vor dem IS unter der Verwaltung Bagdads. Fortan sollten sie kurdisch verwaltet werden. Mit dieser "Eingemeindung" würde das Territorium Kurdistans um 40 Prozent ausgedehnt.
Ein Schuss ins Knie
Barzani strahlte, als über 90 Prozent der abgegebenen Stimmen ein Ja für die Unabhängigkeit ergaben. Nun sollten Verhandlungen mit der Zentralregierung aufgenommen werden über eine Loslösung Kurdistans vom Restirak. Doch Barzani bekam Gegenwind, der sich zu einem regelrechten Sturm entwickelte. Im Zentrum von Tuz Khurmatu kam es in den Tagen nach dem Referendum zu heftigen Gefechten. Insgesamt sollen 30 Menschen den Auseinandersetzungen nach der Wahl vor allem in der Provinz Kirkuk zum Opfer gefallen sein.
Barzanis Kalkül, die Gunst der Stunde nach der weitgehenden Vertreibung des IS zu nutzen und sein lang gehegtes Ziel eines Kurdenstaates voranzutreiben, ging nach hinten los. Denn nicht nur die internationale Gemeinschaft probte den Schulterschluss mit Bagdad, sondern auch die Spannungen innerhalb der kurdischen Parteien und Organisationen haben dadurch dramatisch zugenommen. Es hieß nicht mehr nur Erbil gegen Bagdad, sondern auch Erbil gegen Suleimanija, Kurdenführer Barzani gegen die Anhänger des kürzlich verstorbenen Kurdenführers Dschalal Talabani und seiner PUK.
Nirgends wird dieser Bruderzwist so deutlich wie in den Reihen der ehemaligen kurdischen Freiheitskämpfer, der Peschmerga. Nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 und der Entscheidung der beiden Kurdenführer Barzani und Talabani, fortan mit einer Stimme zu sprechen, wurde auch der Entschluss gefasst, nicht nur die politischen Institutionen zusammenzuführen. Bis dahin unterstanden die Peschmerga-Divisionen entweder Barzani oder Talabani. Das neu geschaffene Peschmerga-Ministerium sollte die ehemaligen Guerillakämpfer zu einer einheitlichen Armee transformieren. Doch das geschah nicht. Dass die Talabani-Partei PUK ihre Kämpfer aus Kirkuk abgezogen hat, wertet Barzani als Verrat. Auch wenn er als Politiker zurücktrete, werde er weiterhin der Peschmerga angehören, lässt der Kurdenführer nun verlauten.
Neuwahlen stehen an
Barzanis Mandat als Präsident endete eigentlich bereits 2013 nach zwei Amtsperioden, wie es die kurdische Regionalverfassung vorschreibt. Das Parlament hatte es dann um zwei Jahre verlängert. Als Barzani eine zweite Verlängerung anstrebte, kam es in der Volksvertretung zum Eklat. Die Oppositionspartei Goran und auch Teile der PUK, der Aziz in Tuz Khurmatu angehört, wollten der Verlängerung nicht zustimmen, forderten Barzani auf, zurückzutreten und den Weg für einen Nachfolger frei zu machen.
Doch der dachte nicht daran. Er entmachtete das Parlament, indem er den oppositionellen Abgeordneten den Zugang verweigerte, warf die Goran-Minister aus der Regierung und ließ den Parlamentspräsidenten aus Suleimanija nicht mehr nach Erbil einreisen. Begründet wurde dies alles mit dem Kampf gegen den IS, der bis vor wenigen Monaten noch weite Teile im Norden des Irak kontrollierte. Erst als das Referendum zur Unabhängigkeit der Zustimmung aller kurdischen Parteien bedurfte, berief Barzani das von ihm auf Eis gelegte Parlament wieder ein, um sich sein Vorhaben absegnen zu lassen.
Ob sein Rückzug die innerkurdischen Konflikte lösen wird, ist fraglich. Auch weiterhin werden er und sein Clan jedenfalls eine gewichtige Rolle in Kurdistan spielen und möglichst viele Fäden in der Hand behalten. Sicher ist bisher nur, dass die Spannungen zwischen Erbil und Bagdad dadurch abgebaut werden.