Man muss nur aufpassen, dass einem nicht alles über den Kopf wächst: Über die Unmöglichkeit des Aufräumens.
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Was dem einen (Schiller) seine faulen Äpfel in der Tischlade, war dem anderen (Doderer) sein im Arbeitszimmer versprühtes Lavendelwasser, und von Ernst Jünger erzählt man sich, wenn er am Schreibtisch gesessen sei, habe oft tagelang kein Fenster geöffnet werden dürfen: Sein Stimulans war der Mief. Sigmund Freud nahm seine Sammlung von Bronzestatuetten, Gipsfiguren und Vasen, deren Nähe ihm als Inspirationsfetisch unentbehrlich waren, sogar auf Reisen mit.
Krimskrams
Auch wir schlichteren Gemüter hängen an unserem Krimskrams, umgeben uns mit geliebten Gegenständen, die sich, da ausschließlich für unsereins von Bedeutung, jeder objektiven Bewertung entziehen. Teils sind sie Anregungshilfe, teils dienen sie einfach dazu, Behagen zu verbreiten, wieder anderes ist uns als Medium zu innig verehrten Menschen heilig oder als materialisierte Erinnerung an wichtige Lebensstationen, Schicksalsfügungen, Reisen. Man muss nur aufpassen, dass sie einem nicht über den Kopf wachsen - am Ende bleibt auf dem Arbeitstisch nicht einmal mehr Platz für ein Blatt Papier.
Auch in meinem Devotionalienladen wird’s allmählich eng. Und doch - Möglichkeiten der Eindämmung sehe ich nicht. Wie sollte ich es beispielsweise übers Herz bringen, das gläserne Goethe-Barometer aus meiner Nähe zu verbannen, das mir seit Jahr und Tag, ein Gastgeschenk des Berliner Kollegen Heinz Knobloch, die Luftdruckveränderungen anzeigt? Auch die Schnapsflasche mit dem Aufkleber "Grillparzergeist" möchte ich nicht missen - wohl wissend, dass es nur der Werbegag einer Destillerie war, die sich im Elternhaus des Dichters eingenistet hatte. Adalbert Stifter ist mit einer Reproduktion seines Ölbildes "Blick in die Beatrixgasse in Wien" vertreten, Peter Altenberg mit dem auf einen Briefbogen seines venezianischen Lieblingshotels gekritzelten Original seiner Prosaminiatur "Nippes", du mein über alles geliebter Victor Auburtin mit einem Bronzeabguss seines Porträtreliefs, das bis zu dessen Auflassung sein Grab geschmückt hat.
Den Fernen Osten, mit dessen Geisteswelt ich sympathisiere, habe ich in Gestalt eines aus Kampferholz gefertigten Abacus in Reichweite; mein seifensteinener Signaturstempel ist der phantasievolle Versuch einer Taipeher Gravierwerkstatt, meinen Namen ins Chinesische zu transmittieren. Die übliche Familienfotogalerie ist durch eine Planskizze meines frühverstorbenen Lieblingsbruders ersetzt - er war Landschaftsarchitekt. Die Schocknachricht von seinem Freitod erreichte mich bei Antritt eines Ibiza-Urlaubs. Ich war noch beim Einchecken in der Hotelhalle, als der Anruf eintraf, die Koffer waren noch nicht ausgepackt; seither sind mir Sommerferien am Meer traumatisch verleidet. Ich reiste unverzüglich an den Unglücksort, nahm am Begräbnis teil, kümmerte mich vor allem um unsere völlig gebrochene Mutter und kehrte schließlich, auf jeden weiteren Urlaub verzichtend, an meinen Wohnort Wien zurück.
Transfiguration
Es war einige Zeit danach, als es sich ergab, dass die in der Gegend um den Mondsee wirkende Hinterglasmalerin Helga Eiterer, auf deren Werk ich bei einer Wiener Vernissage aufmerksam geworden war, lebhaftes Interesse bekundete, mich zu porträtieren. Ich willigte ein, die Künstlerin machte sich an die Arbeit, das fertige Bild ging in meinen Besitz über, und Besucher, die es seither bei mir im Vorzimmer hängen sehen und kritisch betrachten, bescheinigen ihm allesamt außergewöhnliche Treffsicherheit.
Umso schwerer fällt es mir, eine Erklärung für meine eigene Beziehung zu besagtem Kunstwerk zu finden. Es begann zunächst nur allmählich, wurde mit der Zeit stärker und stärker, und heute gibt es für mich nicht mehr den geringsten Zweifel: Der mich da aus dem ebenholzschwarzen Bilderrahmen anblickt, bin nicht ich, sondern - mein verstorbener Bruder Helmut. Es sind seine Gesichtszüge: seine Verletzlichkeit, seine Rechtschaffenheit, sein Ernst. Ein Fall von Transfigura- tion, der umso rätselhafter ist, als mein Bruder und ich in unserer äußeren Erscheinung nur wenig Ähnlichkeit haben.
Und die Künstlerin, die das Bild gemalt hat? Ich schwöre hoch und heilig: Sie hat von meinem Bruder nicht die blasseste Ahnung, ist ihm niemals begegnet, hat nie auch nur das kleinste Foto von ihm in der Hand gehabt ...
An meine Peru-Reise auf der Suche nach Thornton Wilders "Brücke von San Luis Rey" erinnert die Nachbildung eines jener "Retablos", mit denen in alter Zeit die spanischen Missionare im Andenhochland von Hütte zu Hütte zogen, um den Nachfahren der sonnengläubigen Inkas die christliche Frohbotschaft zu erläutern; vom Schauplatz der Hemingway-Erzählung "Schnee am Kilimandscharo" habe ich ein Straußenei mitgebracht, aus Mexiko eine in allen Farben des Regenbogenspektrums schimmernde Keramiksonne, aus Portugal einen Barockengel, dem die Flügel nicht aus den Schultern, sondern aus der Brust wachsen, vom heiligen Berg Athos (wo mir die Ordensoberen, knapp an Novizen, schon die Mönchskutte angemessen hatten) einen vom langjährigen Gebrauch jämmerlich zerbeulten Blechnapf.
Auch Kindheitserinnerungen verlangen ihren Tribut: der schwergewichtige Anker-Steinbaukasten, die zierliche Zinnfigur des brennenden Paulinchens, die Schatulle mit dem Knetgummi, den die überstrenge Großmutter dem zu äußerster Reinlichkeit angehaltenen Knirps grausam vorenthielt. Jetzt, wenn ich mir vom Hantieren mit dem geduldigen Plastilin Linderung momentaner Nervositäten erhoffe, darf ich das einst Verbotene lustvoll nachholen.
Der schwarz-gelb gestreifte Holzbehälter mit dem trichterförmigen Einwurf, Replikat der alten k.k. Briefkästen, hilft über Frustrationen hinweg, die sich bei qualvoll langem Ausbleiben dringend erwarteter Poststücke einstellen; der "Tintensee", das "Tor der geflügelten Worte" und der "Konjunkturbrunnen" auf der "Karte des Bücherlandes" spenden Trost in Schreibkrisen; in der blechernen "Pengekasse" aus dem Kopenhagener Tivoli ist der Notgroschen aufbewahrt.
Prunkstück aber ist jenes liebevoll intarsierte Biedermeier-Stehpult, das ich meinem früheren Rechtsbeistand abluchsen konnte, als er seine Kanzlei auflöste. Und meiner Wahlheimat Österreich huldige ich mit einem Ehrenplatz für jenen zerschlissenen Wimpel, mit dem während des Ersten Weltkrieges unter der Devise "Indivisibiliter ac inseparabiliter" den opferwilligen Patrioten Anerkennung gezollt wurde.
Den Einbrechern, die vor einigen Jahren mein Domizil heimgesucht haben, schulde ich Dank dafür, dass sie sich an keinem dieser Gegenstände vergriffen haben - es hätte mich schwerer getroffen als jeder andere Verlust.
Und da sollte ich selber - welch hässliches Wort! - "endlich einmal ausmisten"? Ausgeschlossen. An Aufräumen ist nicht zu denken.
Dem Thema "Aufräumen" ist der Hauptteil der neuen Ausgabe von "Literarisches Österreich", der Halbjahreszeitschrift des Österreichischen Schriftsteller/innenverbands (ÖSV), gewidmet, dem auch dieser Text von Dietmar Grieser entstammt. Das Heft wird am 11. Jänner mit Lesungen im Literaturhaus Wien um 19.00 Uhr präsentiert.
Seidengasse 13, 1070 Wien; Moderation: Christian Teissl (Vorsitzender des ÖSV).
Dietmar Grieser, 1934 in Hannover geboren, lebt seit 1957 als Schriftsteller in Wien. Zuletzt ist von ihm erschienen: "Geliebte Ukraine" (Amalthea, 2022).