Die Abgeordneten stimmten gegen alle Brexit-Alternativen. Die Konservativen haben möglicherweise einen Ausweg aus ihrem Schlamassel gefunden, Labour streitet um den Kurs.
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London. Das britische Parlament hat sich am Mittwoch nicht auf eine Alternative zum Brexit-Abkommen von Premierministerin Theresa May einigen können. Verschiedene Varianten einer engeren Anbindung an die EU lehnten die Abgeordneten am späten Abend genau so ab wie ein zweites Referendum oder einen Austritt ohne Abkommen.
Theresa May hat ihrer Partei versprochen, von ihrem Amt zurück zu treten, sobald das von ihr mit der EU ausgehandelte Austritts-Abkommen unter Dach und Fach ist. May hofft, den Vertrag noch diese Woche durchs Unterhaus zu bringen. In diesem Fall wäre der 22.Mai das Datum des britischen Austritts aus der EU.
Sie wolle im Anschluss "eine geregelte Übergabe" an einen Nachfolger, erklärte May gestern abends im House of Commons ihren Hinterbänklern. Sie habe, sagte May, "verstanden", was die Partei von ihr erwarte. Einen neuen Partei- und Regierungschef könnte es unter diesen Umständen bereits im Sommer geben. Zwei Dutzend konservativer Politiker stehen als Kandidaten bereit.
Immer mehr drängen May zum Abgang
Unklar war gestern noch, was geschehen würde, wenn das Parlament Mays Deal ein drittes Mal ablehnen würde. Zwar erklärten zahlreiche Gegner ihres Deals, numehr seien sie zu einem Ja zum Austritts-Abkommen bereit. Einige Hardliner haben aber weitere Ablehnung des Abkommens angekündigt. Und moderate Tories fürchten einen neuen Parteichef von der Brexit-Rechten. Dass der Deal durchkommt, ist somit noch keineswegs garantiert.
Immer mehr Konservative hatten May allerdings in den letzten Wochen zum Abgang gedrängt. Gestern hatte der Versuch des britischen Parlaments, in eigener Regie Alternativen zum Brexit-Kurs der Regierung zu finden, die Premierministerin zusätzlich in Schwierigkeiten gebracht.
May musste den Vorgängen im Unterhaus am Mittwoch ohnmächtig zusehen, nachdem Abgeordnete aller Parteien in wachsender Brexit-Panik eigene Vorstellungen zur Abstimmung gestellt hatten.
Bei diesen "Probe-Abstimmungen" zeichnete sich ab, dass viele Unterhaus-Abgeordnete beim Brexit eine "sanfte Landung" vorziehen würden. 264 Abgeordnete stimmten zum Beispiel für Verbleib in einer Zollunion der EU. 272 waren dagegen. Die Idee wiederum, dass Großbritannien am 12.April ganz ohne Deal aus der EU ausscheiden könnte, wurde klar abgelehnt: Sie erhielt nur 160 Stimmen gestern Nacht.
Sogar die Idee eines neuen Referendums kam überraschend gut an. Der Vorschlag, dass jedweder vom Unterhaus akzeptierte Deal der Bevölkerung "zur Ratifizierung" vorgelegt werden sollte, schaffte es auf 268 gegen 295 Stimmen. Einem neuen Referendum werden nun gute Chancen in weiteren Abstimmungsrunden prophezeit.
Die Fronten verhärten sich
Die Brexiteers warfen der Regierungschefin vor, mit ihrer Politik "den gesamten Brexit gefährdet" zu haben. Sie fürchten, dass das Parlament sich jetzt auf einen "weichen Brexit" verständigt, den sie für "keinen echten" Brexit halten - oder dass es am Ende gar keinen britischen Austritt aus der EU gibt.
Durch die Einschaltung des Parlaments sahen die Hardliner ihren ganzen "Traum" eines harten Brexit ins Wanken kommen. Bisher hatten sie mit Druck auf May ihren Willen immer neu durchsetzen können. Wegen der Gemeinschaftsinitiative gemäßigter Hinterbänkler aber, aus dem Pro-Brexit- wie dem pro-europäischen Lager, drohten sie nun ins Abseits zu geraten und ihren Einfluss zu verlieren.
Einige der schärfsten Gegner des Austrittsvertrags, der im Parlament zweimal abgeschmettert wurde, glauben sich mittlerweile genötigt, diesen Deal "unter Protest" akzeptieren zu müssen – um den Austritt aus der EU überhaupt noch sicher zu stellen. Ihr neuer Plan ist es, May rasch durch einen der ihren zu ersetzen, um bei anschließenden Verhandlungen mit der EU über die künftigen Handelsbeziehungen erneut auf Kollisionskurs zu gehen.
Jacob Rees-Mogg, der Führer der nationalkonservativen Hinterbänkler in der Tory-Fraktion, entschuldigte sich am Mittwoch bei verärgerten Anhängern dafür, dass er nun – aus taktischen Gründen – für den bislang heftig von ihm attackierten May-Deal stimmen will. "Es tut mir leid, dass ich es mir anders überlegt habe", schrieb er gestern in der rechten Daily Mail. Er habe Verständnis dafür, dass man ihn nun des "Verrats" bezichtigen werde.
Auch Boris Johnson erntete Buhrufe, als er auf einer öffentlichen Veranstaltung Ähnliches signalisierte. Der Ex-Außenminister machte freilich den Rücktritt Mays zur Bedingung für seinen Schwenk in dieser Frage. Johnson hofft noch immer, bis Juli Partei- und Regierungschef zu sein.
Die Regierung ließ gestern offen, ob sie Mays Deal, eventuell am Freitag, erneut ins Parlament bringen will. Speaker John Bercow erinnerte die Regierung gestern daran, dass sie bestimmte Bedingungen erfüllen muss, bevor ihr Deal zur Abstimmung kommen kann.
Während die Konservative Partei vor einer neuen Zerreißprobe steht, haben die gestrigen "Probe-Abstimmungen" auch im Lager der oppositionellen Labour Party die inneren Gegensätze verschärft. Die Labour-Führung, die Großbritannien in einer permanenten Zollunion mit der EU halten will, schwankt noch in der Frage, ob sie auch für Verbleib im Binnenmarkt, und damit für weitere Personenfreizügigkeit, eintreten soll.
Vor allem ist die Partei aber in der Frage eines neuen Referendums gespalten. Nur äußerst zögernd gab Parteichef Jeremy Corbyn den Befürwortern eines solchen Referendums nach. Noch am selben Tag hatte es im Corbyns Schattenkabinett scharfe Auseinandersetzungen gegeben. Beide Seiten in diesem Streit drohten mit Rücktritt aus Labours Führungsteam.
Barry Gardiner, Labours Schattenminister für Außenhandel, hatte erklärt, ein solches Referendum dürfe es nicht geben, weil Labour "keine Pro-EU-Partei mehr" sei. Dagegen hatte Vize-Parteichef Tom Watson, der noch vorigen Samstag auf der Großdemonstration in London mitmarschiert war, nachdrücklich protestiert.
Die Frage eines neuen Referendums ist noch immer die am heißesten umstrittene in Parlament und Bevölkerung Großbritanniens. Letzten Erhebungen des Nationalen Zentrums für Sozialforschung zufolge würden sich heute 54 Prozent aller Briten für und nur noch 46 Prozent gegen Verbleib in der EU entscheiden. Auf der offiziellen Webseite der Regierung ging unterdessen eine Petition, die die Rücknahme der Austritts-Erklärung fordert, gestern auf 6 Millionen Unterschriften zu.
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