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Mayday: In der Hand von Piraten

Von Christian Hoffmann

Reflexionen

Mit der Gestalt des Piraten werden immer noch romantische Vorstellungen verknüpft. Die Wahrheit über das Piratenleben ist jedoch ernüchternd, wie die Aufzeichnungen des Kapitäns eines deutschen Containerschiffes belegen. Und sie ist es wohl immer gewesen, wenn man den Legenden über Freibeuter früherer Jahrhunderte auf den Grund geht.


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"Mayday, Mayday, Mayday! This is Hansa Stavanger, repeat Hansa Stavanger, we are under pirates' attack!" Diesen Notruf empfing der Wachoffizier des Anti-Pircay Center (APC) in Dubai am 4. April des Jahres 2009 über Funk. (Der im internationalen Funkverkehr verwendete Notruf: "Mayday!" kommt vom französischen Ausruf: "M aidez!", übersetzt: "Helfen Sie mir!") Gesendet hatte den Notruf das deutsche Containerschiff "Hansa Stavanger", das entlang der somalischen Küste unterwegs war. In etwas mehr als einem Tag sollte man in Mombasa, Kenia, einlaufen, in der Küche wurde bereits das Grillfest vorbereitet, mit dem die Besatzung anderntags ihre Ankunft feiern wollte, wie Kapitän Kotiuk, ein gebürtiger Pole, in seinem Tagebuch festhält.

Dann wird der Kapitän auf die Brücke gerufen. Ein Schnellboot nähert sich der "Hansa Stavanger" mit großer Geschwindigkeit. Den auf der Kommandobrücke Versammelten ist sofort klar, was diese Beobachtung bedeutet. Sie folgen den Anweisungen, die der Wachoffizier des APC über Funk durchgibt, und ändern in voller Fahrt den Kurs. Dann noch einmal und noch einmal. Dieses Zickzack baut am Heck des Frachters eine Welle auf, die dem Motorboot zu schaffen macht.

Inzwischen versammelt sich die Mannschaft, wie in einem solchen Fall vorgesehen, im Sicherheitsraum des Schiffes, in dem an friedlichen Tagen hauptsächlich Tischtennis gespielt wird. Die Männer kommen aus Polen, Russland, Deutschland und von den Philippinen, 24 an der Zahl, Matrosen, Stewarts, Mechaniker, zwei Praktikanten, drei Offiziere.

Draußen schaffen es die Angreifer, das Heck des Schiffes zu passieren. Sobald sie einen günstigen Winkel zur Kommandobrücke erreicht haben, eröffnen sie das Feuer aus Kalaschnikows. Die Männer auf der Brücke werfen sich zu Boden, mehrere Kugeln durchschlagen die Fensterscheiben. Dann folgen die ersten Schüsse aus einem Granatwerfer. Nach einem Volltreffer bricht Feuer aus. Zugleich schaffen es die Piraten, eine Leiter auszubringen, mit deren Hilfe sie an Deck kommen und die Brücke stürmen. "Auf allen Vieren krieche ich zur Tür", notiert Kapitän Kotiuk. "Wieder ein Schuss. Ich spüre den Luftzug der Kugel an meinen Haaren. Die muss direkt an meinem Kopf vorbeigesaust sein; sie trifft und zerstört eines der Brückenfenster. Der vor der Tür stehende Pirat zerschlägt die Türscheibe und unsere beiden Hände treffen sich an dem Schloss."

Mit diesen Szenen, die sich am 4. April des Jahres 2009 zutrugen, beginnt das, was Kotiuk, damals 60 Jahre alt, in seinen kürzlich veröffentlichten Aufzeichnungen "die tragischste Zeit meines Lebens" nennt. Das Buch liefert ein sehr klares Bild der modernen Piraterie, wie sie sich in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt hat. Während im Jahr 1989 ganze drei Überfälle auf Schiffe gemeldet wurden, so wurden im Jahr 2008 weltweit 49 Schiffe gekapert wie die "Hansa Stavanger" und 46 weitere angegriffen. 889 Seeleute waren als Geiseln genommen worden, elf getötet und 21 gelten immer noch als vermisst. Seither sind die Zahlen dank der Präsenz von Kriegsschiffen leicht rückläufig.

Ein einziger Albtraum

Aber was sagen schon Zahlen? Auf der "Hansa Stavanger" ist inzwischen die ganze Mannschaft auf der Brücke versammelt, auf dem Boden liegend, die Hände im Nacken verschränkt, bewacht von Piraten, die Kotiuk als halbe Kinder beschreibt. "Sie machen auf mich", notiert er, "einen nervösen, erschrockenen Eindruck." Unter dem Kommando dieser schwerbewaffneten Kinder, die sofort zu schießen beginnen, sobald sich ein Flugzeug zeigt, muss der Kapitän das Schiff ohne ausreichende nautische Unterlagen dicht an die somalische Küste steuern, wo der Anker fällt.

Hier beginnt die eigentliche Tragödie, die vier Monate oder 121 Tage dauern soll. Hysterische Seeräuber, die jede abendliche Wolke, von der der Radarschirm ein Echo zeigt, für einen Angreifer halten, auf den sie blind das Feuer eröffnen. Gespielte Hinrichtungen, die die Nerven der Geiseln zermürben, Krankheit, Mangel an Proviant und Wasser und vor allem, das Schlimmste, die gleichgültige Kaltschnäuzigkeit der Bürokraten im fernen Hamburg, die keine Anstalten unternehmen, ernsthaft über das Schicksal von Schiff und Mannschaft zu verhandeln. "Man muss sich das einmal richtig vorstellen", schreibt zu Hause, in München, Bozena Kotiuk, in ihrem Tagebuch, das zugleich mit dem ihres Mannes veröffentlich wurde. "Sie haben sehr wenig zu essen; eigentlich ernähren sie sich nur noch von dem Reis, der aus einem aufgebrochenen Container stammt. Sie trinken Wasser, das auf dem Schiff normalerweise zum Klospülen dient. Manche sind krank, es gibt keine Medikamente. Die Hygiene ist wohl ein einziger Albtraum. Wie sieht denn eine Toilette aus, die von knapp 40 Männern mehrmals am Tag benutzt wird, von denen ein Teil kaum so etwas wie Körperhygiene kennt und noch dazu krank ist?"

Nach quälenden Verhandlungen endet schließlich das Drama, das am 4. April begonnen hat, am Sonntag, den 2. August 2009 doch noch unblutig. Um 13 Uhr 30 wirft eine Cessna über dem Schiff einen blauen Sack mit dem Lösegeld ab, etwas weniger als vier Millionen US-Dollar. Gegen 19 Uhr verlassen die letzten Piraten das Schiff. Bald danach bringen Helikopter Marinesoldaten der deutschen Fregatte "Mecklenburg-Vorpommern" an Bord. Am 7. August macht schließlich die "Hansa Stavanger" im sichern Hafen von Mombasa fest. "Mein Job ist hiermit zu Ende", notiert Kotiuk. "Ich habe meine Mannschaft lebend … zurückgebracht."

Kommunisten Zur See

Diese Erzählungen passen ganz und gar nicht zur romantischen Gestalt des edlen Freibeuters, insbesondere wenn sich herausstellt, dass der Koch der Piraten zur Mitarbeit gezwungen wurde, indem man seine Frau und seine Kinder entführt und mit dem Tod bedroht hat. Aber vermutlich hat es diese edlen Freibeuter auch nie gegeben, wie Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz exemplarisch anhand der Gestalt des Klaas Störtebeker darlegen, eines legendären deutschen Piraten im Spätmittelalter.

Dokumente gibt es über das Leben des Piraten so gut wie keine. Der Name Störtebeker soll seine Trinkfestigkeit ausdrücken, zusammengesetzt aus der plattdeutschen Variante der Wörter "stürzen" und "Becher". Die Sagen, in denen alles in allem 12 verschiedene Geburtsorte genannt werden, wie eine wissenschaftliche Studie gezeigt, berichten, dass er ein verarmter Adeliger gewesen sei, der mit seinen Kumpanen, den "Likedeelern" (Gleichteilern), die Ostsee von Mecklenburg bis Schweden und Norwegen unsicher gemacht hatte. Theodor Fontane bezeichnete die Leute um den Piraten in einem Brief respektvoll als "Kommunisten" und bereitete einen Roman über die Gleichteiler vor, der jedoch nie fertig wurde. In den Skizzen dazu bringt er die romantischen Vorstellung vom Leben der Seeräuber adeliger und nicht-adeliger Herkunft auf den Punkt: "Die See, der Ton und die Teilungsform, in der sie lebten, sorgten für Gleichheit. Sie waren Likedeeler und teilten alles, auch die Ehre."

Die Wahrheit der spätmittelalterlichen deutschen Seeräuber dürfte allerdings den somalischen Zuständen sehr nahe gewesen sein, wie einer der berühmtesten Piratenüberfälle jener Zeit belegt. Historisch verbürgt ist der Angriff auf die norwegische Stadt Bergen im Jahr 1393. Damals wurde die ganze Stadt von einer Horde Piraten geplündert, nur die Deutsche Brücke, der Landungssteg der Hanse, blieb wie durch ein Wunder verschont.

Der Hintergrund dieses Wunders ist sehr einfach. Zu jener Blütezeit der deutschen Seeräuberei tobte ein Krieg um die dänische Thronfolge. Auf der einen Seite stand Norwegen und die aus Dänemark stammende Königin Margarete, auf der anderen Mecklenburg und Schweden. Dabei war es ein offenes Geheimnis, dass Mecklenburg immer wieder mit den Piraten zusammenarbeitete und sie zu den Überfällen auf die gegnerische Seite ermunterte. So wie es heutzutage Quellen gibt, denen zufolge die Clans, die die Seeräuberei vor Somalia betreiben, Hinweise von Behörden über Routen und Ladung von Schiffen bekommen.

Literatur.

Krzysztof Kotiuk: Frohe Ostern Hansa Stavanger. 121 Tage in der Hand von Piraten. Aus dem Polnischen von Leo Walotek-Scheidegger. Verlag Delius Klasing, Bielefeld 2010, 219 Seiten

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz: Störte-

beker und Konsorten. Piraten in Nord- und Ostsee. Ein historisches Lesebuch. Verlag Delius Klasing, Bielefeld 2010, 240 Seiten