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"Mazedonien ist mein Land, Albanien unsere Mutter"

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Politik

Mazedonien kann die ethnische Segregation der Gesellschaft nicht überwinden. Nun eskaliert die Situation.


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Struga/Tetovo. Im Café "Dredheza", was auf Albanisch "Erdbeere" heißt, plaudern die albanisch-stämmigen Mazedonier Kaim Dauti, Idriz Bilali, Natmir Bilali und Shkelzen Sela. Sie sitzen draußen, das Wetter ist schön, sie haben gerade Mokka bestellt.

In der Fußgängerzone, dem pulsierenden Herz der Ortschaft Struga, einer gemütlichen Flaniermeile mit Geschäften und Boutiquen, in der das "Dredheza" liegt, ist schon viel los. Viele Frauen, auch Mädchen, tragen Kopftücher.

Manche Schilder sind nur auf Albanisch beschriftet. Albanien ist von Struga, direkt am malerischen Ohridsee gelegen, nur ein paar Kilometer entfernt.

Natmir (41), heller Typ, frisch rasiert, stechender Blick, bringt die Sache schnell auf den Punkt, bevor er aus seiner Tasse schlürft. "Hier bin ich ein Mensch zweiter Klasse."

Kaim Dauti (49), ein Lehrer aus dem nahe gelegenen Dorf Dollogozhda, in dem "alle Bewohner albanischer Herkunft" seien und "keiner ethnischer Mazedonier", wie er mit fester Stimme betont, sekundiert prompt: "Nur wenige Bewohner in meinem Dorf sprechen Mazedonisch. Wer eine Geburtsurkunde braucht und dafür in Struga die auf mazedonisch operierenden Behörden aufsucht, braucht einen Dolmetscher. Das darf nicht sein."

Junge albanische Mazedonier wollen nur: "Bloß weg!"

Struga, Kicevo, Gostivar, Tetovo. Im unwirtlichen, bergigen Westen Mazedoniens dominieren die albanischen Mazedonier.

Wer auf der kurvigen Landstraße von Struga im Süden ins 150 Kilometer entfernte Tetovo im Norden, nahe dem Kosovo, fährt, dem fällt vor allem eines auf: Ob an Strommasten, von unzähligen Gebäuden oder auf den muslimischen Friedhöfen: Überall flattert die albanische Flagge, tiefroter Untergrund, mit dem schwarzen, zweiköpfigen Adler in der Mitte, im Wind.

Dabei ist man in Mazedonien, nicht in Albanien.

Gut zwei Millionen Einwohner hat Mazedonien, gut 25 Prozent seien albanischer Herkunft, so die jüngste Volkszählung. Doch die ist schon fünfzehn Jahre her. Pure Absicht, glauben viele mazedonische Albaner. Sie glauben, dass der Anteil der mazedonischen Albaner bei 30 Prozent liegt, vielleicht noch darüber. Die Regierung in Skopje wolle das aber nicht zugeben.

Gleicher Staat hin, per Verfassung garantierte Koexistenz her: Werden Mischehen zwischen ethnischen Albanern und ethnischen Mazedoniern geschlossen? Nein.

Unstrittig ist: Hunderttausende mazedonische Albaner sind bereits ausgewandert, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Nach Österreich, nach Deutschland, in die Schweiz.

Und die meisten jungen Mazedonier, besonders die albanischen, die zurückgeblieben sind, wollen nur eines: "Bloß weg von hier!"

Kein Wunder: Mazedonien leidet unter einer chronischen Massenarbeitslosigkeit. Gegenwärtig liegt sie bei über 26 Prozent. Das Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich auf rund 5000 Euro per annum. Das ist sehr, sehr niedrig.

Ein Beitritt zur EU, seit Jahren von Brüssel in Aussicht gestellt, ist in weite Ferne gerückt, ebenso die Nato-Mitgliedschaft.

Zu allem Überfluss steckt das Land schon seit Anfang 2015 in einer schweren, sich zuspitzenden politischen Krise. Sie ist unterdessen zu einer handfesten Verfassungskrise avanciert.

Hier orthodoxe Christen,dort sunnitische Muslime

Mazedonien mag klein sein, die Konfliktlinien ausgerechnet hier sind dafür umso zahlreicher: Natürlich gilt auch hier das Muster Links gegen Rechts, zudem Arm gegen Reich, ferner Jung gegen Alt, überdies ausufernde Korruption versus die Forderung nach Transparenz sowie Stillstand gegen tiefgreifende Reformen.

Was nun aber vor allem die politische Krise befeuert: Hier ist das Lager der ethnischen Mazedonier, in der Mehrzahl orthodoxe Christen, die weiter die Mehrheit bilden in "Mazedonien als Nationalstaat der Mazedonier", wie es in der Verfassung wortgetreu heißt. Sie wollen den Status quo behalten.

Dort sind die albanischen Mazedonier, in der Mehrzahl sunnitische Muslimen, die ihre eigenen Parteien haben - und mehr Rechte fordern. Immer lauter. Immer nachdrücklicher.

Der Konflikt ist nicht neu, schien aber schon längst beigelegt. Ein Trugschluss. Ein blutiger Aufstand der albanischen Mazedonier um ihren Anführer Ali Mehmeti, geführt von Kämpfern der gefürchteten UCK, mündete im August 2001 in das sogenannte Ohrid-Abkommen.

Im Kern sieht es eine angemessene Repräsentation der mazedonischen Albaner in Politik und Verwaltung vor. Dies scheint zwar weitgehend umgesetzt. Nur: Die ethnische Segregation der Gesellschaft konnte dadurch nicht überwunden werden. Im Gegenteil.

Und dies, obgleich die DUI-Partei unter dem Ex-Rebellen Ahmeti, die sich wie alle der immerhin vier im Parlament in Skopje vertretenen Parteien der mazedonischen Albaner demonstrativ "die Wahrung und Stärkung" derer Rechte auf die Fahne schreibt, schon seit über einem Jahrzehnt als Juniorpartner der nationalkonservativen VMRO in Skopje mitregieren darf.

Albanische Partei stellt seit Jahren den Juniorpartner

Genau das ist mit das Problem.

"Das war eine schlimme Dekade. Eine Epoche der Dunkelheit!", stöhnt Gazmend Zulbeari, ein albanischer Mazedonier, Mediziner, Aktivist und Intellektueller. Er mache sich für eine offene Bürgergesellschaft in Mazedonien stark, wie er sagt. Sein Urteil über seine Heimat ist niederschmetternd: "Die Korruption und Allmacht des Staates sind in Mazedonien allgegenwärtig - und dies mit DUI in der Regierung."

Auch die Neuwahlen am 11. Dezember haben die politische Krise in Skopje nicht wie erhofft überwinden können. Sie hat sie sogar verschärft. Mehrere Anläufe zu einer Regierungsbildung sind seit dem Urnengang gescheitert.

Die oppositionellen Sozialdemokraten streben den Machtwechsel in Skopje an. Sie wollen eine Koalition mit der noch führenden, aber diskreditierten und bei den jüngsten Wahlen stark dezimierten DUI sowie den kleineren, pro-europäischen und reformwilligen Albanerparteien BESA und Allianza eingehen, um endlich die omnipotente Regierungspartei VMRO abzulösen.

Doch Staatspräsident Gjorge Ivanov erteilt den Sozialdemokraten dafür nicht das Mandat. Er befürchtet den Zerfall Mazedoniens, sollten die Forderungen der mazedonischen Albaner umgesetzt werden.

Am vergangenen Donnerstag eskalierte die Lage in Skopje. Aufgebrachte VMRO-Anhänger drangen in das Parlament in Skopje ein und traktierten mehrere Abgeordnete mit Faustschlägen. Auch der Chef der Sozialdemokraten, Zoran Zaev, wurde am Kopf verletzt, wie Fotos zeigten.

Das VMRO-Lager reagierte damit auf die Wahl eines Präsidenten der Volksvertretung durch die neue Regierungsmehrheit. Die bisher oppositionellen Sozialdemokraten und Abgeordnete der albanischen Minderheit hatten den Albaner Talat Xhaferi, einen DUI-Spitzenfunktionär, zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt. VMRO sprach umgehend von einem "Putsch". Das Balkanland ist ein Pulverfass.

DUI ist auch für vieleAlbaner ein rotes Tuch

Bilall Kasami, auch er ein albanischer Mazedonier, kurzes Haar, schlank, perfekt sitzender, dunkler Anzug, blütenweisses Hemd, modisch schmale Krawatte, fester Händedruck, kann seinen Frust in diesen Tagen nur schwer verbergen. Der Wahl von Talat Xhaferi zum Parlamentspräsidenten zum Trotz: "DUI agiert de facto im Interesse der VMRO", poltert er. "Formal will DUI mit den Sozialdemkraten koalieren, aber in Wirklichkeit setzt DUI die Kooperation mit der VMRO fort."

Weshalb ist das so? Kasami nimmt kein Blatt vor den Mund. "Weil auch DUI-Leute offenbar in illegale Machenschaften verwickelt sind. Sie wollen keinen Machtwechsel, keine Aufklärung."

Kasami, ein leidenschaftlicher Ökonom mit einem Faible für Statistik, kennt DUI gut. Er führt die Partei BESA, 2014 gegründet, die sich als konservativ-liberal einstuft und nach eigenen Angaben schon etwa 10.000 Mitglieder hat. Viele ehemalige DUI-Mitglieder und Anhänger, die enttäuscht Ahmeti und Co. den Rücken gekehrt haben, haben in BESA eine neue politische Heimat gefunden.

Gerade hat Kasami in den BESA-Büros am Stadtrand in Tetovo rund 150 Anhänger über den Stand der Dinge in Skopje unterrichtet. In seinem schlichten Büro in Tetovo sagt er danach, DUI müsse "endlich eine Entscheidung treffen, ob es in der Politik bleiben oder nach Hause gehen" wolle.

Der einzige Weg für DUI sei es, "sich rundum zu erneuern". Personell, substanziell. Was das heißt: Neue Gesichter, ein klares Bekenntnis für Transparenz und Reformen in Mazedonien.

"Falls DUI hingegen weiter seine schützende Hand über Personen mit mutmaßlich dubiosen Machenschaften hält, werden die Wähler DUI endgültig verlassen", ist sich Kasami sicher.

Die Forderung nach der Gleichstellung aller Gruppen

Er stellt zugleich klar: "Ich fühle mich in meiner nationalen Identität als Albaner, mein Land ist aber Mazedonien. Als Albaner bin ich hier aber diskriminiert".

Ohrid-Abkommen hin, Ministerposten für mazedonische Albaner her: Kasami fordert das, was alle Albanerparteien in Mazedonien gebetsmühlenartig fordern: Albanisch müsse die zweite offizielle Amtssprache werden. Die albanischen Regionen in Mazedonien hätten ferner mehr als nur einen Bruchteil dessen vom Staat zurückzuerhalten, was sie in der Form von Steuern und Abgaben an die Zentralregierung in Skopje abführten. Stichwort: Finanzausgleich.

Doch damit nicht genug. "Wir müssen mit den ethnischen Mazedoniern eine Diskussion über die Zukunft des Staates führen", so Kasami. Das Ziel: die faktische Gleichstellung aller Volksgruppen in Mazedonien. Wie, ob in einem binationalen Staat oder in einer anderen Staatsform, lässt Kasami offen. Das werde die Diskussion zeigen, so Kasami. Das Wichtigste sei, dass diese Debatte überhaupt beginne.

Mazedonien hat sich von der EU-Reife weiter entfernt

Agon Ferati (32), ebenso ein albanischer Mazedonier, smartes Gesicht, Brille, ruhige Stimme, Vizepräsident der Reformbewegung DPA, das zum Parteienbündnis Allianza gehört, sieht das alles entweder ähnlich oder genauso.

An DUI lässt auch er kein gutes Haar. "Die Mehrheit der mazedonischen Albaner wird sich von den alten Parteien wie DUI und DPA abwenden". Der Grund sei "das totale Versagen" der DUI in der Regierung mit VMRO.

Ferati bestellt einen Tee, ohne Zucker. Ohne Umschweife spricht er über seine Vision: "Der Beitritt zur EU ist unser großes Ziel. Und das geht nicht ohne große Reformen in Mazedonien."

Unverblümt räumt er ein: "Das Land ist heute nicht reif für einen EU-Beitritt, im Vergleich zu früher noch weniger."

Ferati legt den Finger in die Wunde: "Damals hatten wir nur den Namensstreit mit Griechenland und die Implementation des Ohrid-Abkommens. Heute haben wir ganz andere Probleme."

Im Stakkato zählt er sie auf. Die Ausgaben für Gehälter und Löhne sowie Sozialtransfers machten 60 Prozent im Staatshaushalt aus, in Europa seien es hingegen nur um die 20 Prozent. 30 Prozent der Mazedonier lebten unter der Armutsgrenze. Die Staatsverschuldung habe sich in den letzten Jahren von 1,5 auf fünf Milliarden Euro fast verdreifacht.

Die grassierende Korruption und der Machtmissbrauch seien ferner "die großen Übel, ein Riesenproblem". Ferati: "Dazu muss es einen Runden Tisch geben. Damit diese Probleme endlich gelöst werden. Ein für allemal."

Schon drei Mal in 20 Jahren sei der Bau eines modernen Wasserleitungssystems in Tetovo gescheitert, ärgert sich Ferati. Mehrmals in der Woche werde daher notgedrungen die Wasserversorgung unterbrochen. "Und das in einer so wasserreichen Region wie Tetovo mit reichlich Niederschlag und Flüssen!"

Ferati ist wie Kasami ein überzeugter Reformer. Er hat an der privaten South East European Universität in Tetovo studiert, er arbeitet in der Stadtverwaltung. Sein Job: EU-Gelder zur Wirtschaftsentwicklung in Tetovo abrufen.

Immerhin 644 Millionen Euro stünden dafür im Zeitraum 2014 bis 2020 für Mazedonien bereit, etwa ein Prozent der Wirtschaftsleistung. "Die EU-Gelder sind für uns wichtig", so Ferati.

Was er sich für Mazedonien wünsche? "Die ‚Rule of the Law‘ ("Herrschaft des Rechts") und eine gerechte Wirtschaftsentwicklung. Das würde schon viele Probleme lösen."

Kaim Dauti, Idriz Bilali, Natmir Bilali und Shkelzen Sela haben mittlerweile ihren Mokka im Cafe "Dredheza" in der Fussgängerzone in Struga ausgetrunken.

Welche Rolle solle denn Albanien in der Region spielen? Träumen Sie von einem Großalbanien, die von albanischen Nationalisten angestrebte Vereinigung aller mehrheitlich von ethnischen Albanern bewohnten Gebiete in einem Staat? Pause. Natmir bricht das Schweigen. Er sagt nur lapidar: "Wir sind ein Volk. Albanien ist unsere Mutter".

Gazmend Zulbeari, der Aktivist aus Tetovo, zeigt klare Kante: "Großalbanien? Das ist doch eine Farce! Eine Utopie! Keine Grenzen wären optimal! So wie in der EU."

Derzeit ist auch das nur ein schöner Traum.