Seit einem Jahr ist der Journalist Deniz Yücel in der Türkei in Haft - er ist einer von vielen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Nikosia. Erol Önderoglu hat zurzeit einen deprimierenden Job. An durchschnittlich drei Tagen pro Woche geht der türkische Vertreter der internationalen Menschenrechtsorganisation "Reporter ohne Grenzen" (ROG) zum Istanbuler Justizpalast, um dort Gerichtsverfahren gegen Kollegen zu beobachten. "Im Augenblick erleben wir die finale Phase der Massenprozesse gegen Journalisten nach dem Putschversuch vom Juli 2016", sagt der bedächtige Aktivist, der ROG in der Türkei seit zwei Jahrzehnten vertritt. "Jede Woche stehen bis zu 30 Journalisten vor Gericht." Der 49-Jährige verfolgt auch den Fall des deutsch-türkischen Korrespondenten Deniz Yücel und hält engen Kontakt zu dessen Familie.
Yücel ist der einzige deutsche Journalist, der außerhalb Deutschlands in einem Gefängnis sitzt, aber in der Türkei ist er nur einer unter vielen. Nach Angaben türkischer Journalistenverbände sind dort derzeit mehr als 150 Journalisten inhaftiert, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Manche, wie der Reporter Mehmet Baransu, sitzen seit fast drei Jahren in Untersuchungshaft, ohne dass ein Urteil absehbar wäre. Für sie ist die Untersuchungshaft, die im geltenden Ausnahmezustand bis zu sieben Jahre dauern kann, längst zur Strafe geworden.
Ausländer als Spione
Erol Önderoglu und seine Kollegen konzentrieren sich auf 40 inhaftierte Journalisten, deren Fälle sie genau dokumentieren. "Bei ihnen beschränken sich die Vorwürfe einzig und allein auf ihre journalistische Arbeit", berichtet Önderoglu. Die Anklagen lauten meist auf Propaganda für Terrororganisationen, Verleumdung des Staatspräsidenten oder Verleumdung durch Berichte über Korruption. Gab es Ende des Vorjahres durch die richterliche Entlassung einiger Häftlinge eine gewisse Hoffnung auch für Deniz Yücel, so habe sich die Lage nach Beginn der türkischen Militäroffensive gegen die syrische Kurdenenklave Afrin am 20. Jänner wieder verschärft. Seither wurden laut Önderoglu mindestens zwölf weitere Journalisten wegen ihrer Arbeit festgenommen, von denen fünf noch in Haft sind. Die politische Einflussnahme auf die Justiz sei offensichtlich.
Kritischer Journalismus war in der Türkei noch nie einfach, doch seit der Verhängung des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch ist er die seltene Ausnahme in einer weitgehend gleichgeschalteten Medienlandschaft. Auf der ROG-Rangliste der Pressefreiheit ist die Türkei auf Platz 155 von 180 Ländern abgerutscht. Die inhaftierten Journalisten sind zum einen Mitarbeiter prokurdischer Medien, denen in der Regel Propaganda für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen wird. Zweitens arbeiten sie für Medien, die der Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen nahestanden, den Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Schließlich sind es linke und andere oppositionelle Journalisten, die in ihren Artikeln zu dicht an Regierungsgeheimnisse rührten.
Ein Spezialfall sind ausländische Journalisten, die Erdogan einmal pauschal als potenzielle Spione bezeichnete. Den Vorwurf erhob er auch gegen Deniz Yücel - doch bisher gibt es nicht einmal eine Anklageschrift. Der Fall verdeutlicht aber wie kein anderer, dass Ausländer gegebenenfalls als politische Geiseln missbraucht werden können. Es kam einem Eingeständnis gleich, als Erdogan während des geheimen Besuchs von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder im Vorjahr anbot, den Journalisten freizulassen, wenn Deutschland im Gegenzug einige putschverdächtige, Asyl suchende türkische Generäle ausliefere. "Man kann von einer Lage wie im Kalten Krieg sprechen", sagt Önderoglu: "Menschen als Verhandlungsmasse. Das ist empörend."
Erdogan wiederholte vor kurzem seine Behauptung, nirgends sei die Presse so frei wie in der Türkei. Aber de facto regieren Kriegsrecht und Zensur. Seit Beginn der Afrin-Operation in Syrien bezeichnen Vertreter der Regierung und der von ihr kontrollierten Medien inzwischen jegliche Art von Opposition als "Verrat". Hunderte Menschen wurden festgenommen, weil sie Bedenken gegen den Feldzug in sozialen Medien äußerten. "Es gibt neue Tabuthemen wie die Berichterstattung über getötete Zivilisten", meint Önderoglu.
Bei einem Treffen diktierte Premier Binali Yildirim den Chefredakteuren türkischer Medien, wie sie über den Krieg zu berichten hätten: keine Nachrichten über Proteste, "türkeifeindliche" Berichte ausländischer Medien ignorieren, der Regierungslinie folgend die Operation als zum Schutz der Zivilbevölkerung bezeichnen. Nun hat das Kabinett ein neues Internetgesetz vorgelegt, das die Online-Zensur auf soziale Medien ausdehnt. Dies alles führe zu journalistischer Selbstzensur in ungekanntem Ausmaß, erklärt Erol Önderoglu.
Der Einschüchterung diene auch die unerbittlich rollende Prozesswalze. Ende Jänner wurden fünf Journalisten wegen einer Solidaritätskampagne für die inzwischen geschlossene prokurdische Zeitung "Özgür Gündem" zu Freiheitsstrafen zwischen 18 Monaten und rund zehn Jahren verurteilt.
Diese Woche beobachtet Önderoglu ein Verfahren gegen 20 Angeklagte, die für Medien aus dem Umfeld der Gülen-Bewegung tätig waren. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslänglich wegen "Terrorpropaganda". Auf der Anklagebank sitzen auch die prominenten Journalisten Sahin Alpay und Mehmet Altan. Sie schöpften Hoffnung, als das Verfassungsgericht in einem überraschenden Grundsatzurteil Anfang Jänner ihrem Antrag stattgab, sie aus der mehr als ein Jahr dauernden Untersuchungshaft zu entlassen - es lägen keine Beweise für ein Verbrechen vor. Das Urteil hätte weitreichende Folgen gehabt. "Dutzende Journalisten und Autoren hätten entlassen werden müssen, auch Yücel", sagt Önderoglu.
Solidarität statt Gerechtigkeit
Stattdessen hat der Beschluss eine Verfassungskrise ausgelöst. Fünf niedere Gerichte haben inzwischen entschieden, dass die zwei Journalisten im Gefängnis bleiben müssen, nachdem mehrere Regierungsvertreter behaupteten, die Verfassungsrichter hätten "ihre Autorität überschritten" - obwohl ihre Beschlüsse gemäß der türkischen Konstitution bindend sind. "Erstmals haben wir jetzt den Fall, dass völlig politisierte Strafgerichte das Urteil des Verfassungsgerichts nicht anerkennen", sagt Erol Önderoglu. Damit sei die dritte Gewalt praktisch paralysiert. Es sei extrem schwer, für die Presse- und Meinungsfreiheit zu kämpfen, wenn es keinen Respekt mehr gebe vor der Herrschaft des Rechts.
Önderoglu glaubt auch nicht, dass das Versprechen der Regierung, für die Visaliberalisierung mit der EU die Antiterrorgesetze zu ändern und mehr journalistische Kritik zuzulassen, ernst gemeint sei. "Diese Versprechungen gibt es seit 50 Jahren. Sie sind nur glaubhaft, wenn vorher die inhaftierten Journalisten und Bürgerrechtler freigelassen werden." Die Opposition sei auf sich allein gestellt, sagt er. "Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir weniger auf Gerechtigkeit setzen können als auf Solidarität. Es ist erstaunlich, wie stark der Widerstand der Zivilgesellschaft noch immer ist. Das ist es, worauf es jetzt ankommt."