Zum Hauptinhalt springen

Meditation bei Melange

Von Wolfgang Koch

Reflexionen

Die Geschichte des Buddhismus in Österreich reicht mehr als 100 Jahre zurück. Seine staatliche Anerkennung als "Religion" vor 30 Jahren hat vieles davon vergessen lassen, wie den "Wiener Kaffeehausbuddhismus".


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wahrscheinlich hat der Buddhaweg in Österreich nie eine schönere Blüte erlebt als im geistigen Wien zwischen den Weltkriegen, einer Epoche, die der scharfsinnige Schriftsteller Karl Kraus 1925 zu jener der "Kaffeehausbuddhisten" ausrief: "Wer dränge zum Ziel dieses mystischen Dranges? / Ein Jogi am Ufer des Müßigganges!"

0
Von Oskar Kokoschka als "Trancespieler" porträtiert: Ernst Reinhold, der Buddha-Übersetzungen herausbrachte.
© Bild: Imagno

Der Ausdruck "Kaffeehausbuddhismus" war in Abgrenzung zu Oswald Spenglers "Salonbuddhismus" gut gewählt. Mit Letzterem hatte Spengler im zweiten Band seines Hauptwerks "Der Untergang des Abendlandes" die indische Lehre abgewertet und auf eine Stufe mit okkultistischem und theosophischem Schwindel, mit Neogotik, amerikanischer Chris- tian Science und Taoismus gestellt - alles "verlogenes, religiöses Kunstgewerbe" und "gebildeter Hokuspokus", wetterte Spengler, mit dem der moderne Mensch nur seine "innere Öde ausfüllen möchte". Diese "zweite Religiosität" der Menschheit bildete nach Spengler das notwendige Gegenstück zum "politischen Cäsarismus" der Zwanzigerjahre.

Ein "leeres Gefühl"

In Wien sah man die aus Indien importierte Denkströmung erwartungsgemäß gelassener. Hier nahmen die theosophischen Zirkel viel öfter im Kaffeehaus als in den Salons der besseren Gesellschaft Platz. Das Großbürgertum der Ringstraßenära war, wo es von Rom los kam, kulturprotestantisch und jüdisch-intellektuell inspiriert; es zeigte entsprechend wenig Interesse an Konfessionslosen und exotischen Konvertiten.

So erlebte der Buddhismus im kaiserlichen Wien seine Geburtsstunde in bescheidenen Gelehrtenstuben und dem gemeinsamen Zuhause der Bohème, dem Kaffeehaus: Buddhas Wiege stand an einem Ort, an dem träumerischer Müßiggang das Geschäft unmerklich ablöste. Hier konnte man allein sein, ohne sich allein zu fühlen. In der stilvoll nachlässigen Atmosphäre des Kaffeehauses erschlossen sich die Vier unbegrenzten Zustände des Daseins - Liebe, Mitfreude, Mitleid und Gleichmut - fast automatisch. Zwischen Kleinem Braunen und Apfelstrudel ließ sich leichter als in einem Tempel erkennen, was am Dasein unzulänglich blieb, weil es unbeständig war. Die Kaffeehausgeher ruhten mit unausgerichtetem Gleichmut im offenen Raum des reinen Gewahrseins.

Der wienerischste aller Orte schien wie geschaffen für den Alltag transzendierende Erfahrungen. Friedrich Nicolai hatte hier schon 1781 "beständig eine Menge Menschen, die sich mit NICHTS beschäftigen" vorgefunden. "Manchmal glich das Kaffeehaus einem Lager überwinternder Nomaden", notierte Joseph Roth 1928, "manchmal einem bürgerlichen Speisezimmer, manchmal einem großen Wartesaal in einem Palast und manchmal einem warmen Himmel für Erfrorene." Ein weiterer Gast, der Kroate Miroslav Krleža, schwärmte von "Luftschiffen, die oberhalb der Erde segelten". Stefan Zweig schilderte eine "träge Passivität", ein "leeres Gefühl", das sich bis zur "wohligen Verdumpfung" steigern konnte.

Dieses übermäßige Prestige als "Oase der Stille" hat sich das Wiener Kaffeehaus - trotz Mobiltelefonen und Laptos - bis heute bewahrt. Allerdings könnte man fragen, ob die dazugehörige Meditationspraxis über dem Wasserglas seinerzeit nicht mehr anzubieten hatte als buddhistische TV-Sendungen und staatlicher Religionsunterricht heute . . .

Im Mai 1909 erklärte Karl Kraus, dass er von drei Dingen - Astronomie, Kontrapunkt und Buddhismus - "weniger verstehe als ein neugeborenes Kind". Da sprach der Satiriker aus ihm. Kraus war in kultischer Hinsicht keineswegs taub. 1899 hatte er den jüdischen Väterglauben abgelegt, zwölf Jahre später trat er der katholischen Kirche bei - und 1923 trennte er sich wieder von ihr, weil sie dem von ihm verachteten Regisseur Max Reinhardt erlaubte, in der Salzburger Kollegienkirche ein Drama Hugo von Hofmannsthals aufzuführen.

Im Dezember 1913, also nur ein halbes Jahr, bevor Kraus als publizistischer Außenseiter dem Hurrapatriotismus einer verrückt geworden Welt widerstand, rief ihn die in Berlin erscheinende "Deutsche Montagszeitung" zum "Buddha des Praters" aus. Tatsächlich war Kraus bestens informiert über die buddhistische Wendung nach innen, deren erstes und wichtigstes Prinzip er 1904 in der Negation erkannte:

"Nichts wünschen, nichts begehren, von den Menschen und dem Leben, und du wirst immer glauben, mehr bekommen zu haben, als du hast begehren können; und du weißt aus Erfahrung, wenn du bekommen hast, was du wünschtest, so war es weniger das Gewünschte als die Erfüllung selbst, die dir Freude machte".

Kraus und Neumann

Kannte Kraus den seelenheiteren Indologen Karl Eugen Neumann, der 1894 nach Wien übersiedelt war, um in der Gentzgasse 42 zehn Bände von Pãlitexten zu übersetzen? Bis 1905 waren diese ursprünglichen Lehrreden Buddhas bei insgesamt sieben Verlagen erschienen. Da Kraus’ von Oskar Samek zunächst gerettete Bibliothek 1938 durch die SA zerstört wurde, sind wir hier auf Vermutungen angewiesen.

Kraus’ Schopenhauer-Rezeption oder die Hinwendung des "umgekehrten Kraus", des Sprachphilosophen Fritz Mauthner, zum Buddhismus 1912 wären zwei weitere Möglichkeiten, aus denen der "Fackel"-Herausgeber seine ernsthaften Kenntnisse der Buddhalehre hätte schöpfen können. Wahrscheinlicher aber ist, dass er sie direkt aus dem Freundeskreis, und damit von Neumann, bezog.

Karl Eugen Neumann war der Sohn des vom Juden zum Katholiken konvertierten Wiener Hofoperntenors Angelo Neumann. Er promovierte 1891 zum Dr. phil. in Leipzig, und befreundete sich mit dem ersten Buddhisten Italiens, Giuseppe De Lorenzo. Der Privatgelehrte sprach leidlich gut Eng- lisch und fließend Pãli. Dank Neumanns einzigartiger Übersetzungsleistung, die mit Hilfe geerbter Vermögen gelang, lagen die buddhistischen Urtexte in deutscher Sprache früher vollständig vor als in der englischen.

Dass Neumann ausgerechnet an seinem 50. Geburtstag starb, brachte das Gerücht auf, er habe Selbstmord verübt. Tatsächlich gibt die Sterbeurkunde als Todesursache aber Lungenentzündung und Herzfehler an. Ob Kraus mit Neumann je persönlich in Kontakt stand, bleibt ungewiss, schon wegen der starken Mentalreserve, die Kraus gegen dessen singenden Vater Angelo hegte.

Im März 1904 vermerkte Kraus aus Anlass des spektakulären Freitods von Otto Weininger in Beethovens Sterbehaus, dass der Buddhismus Suizid nur als Opfertod aus ideellen Motiven gestattet. Postum empfahl er dem hochmütigen und von ihm geförderten Antipositivisten den "esoterischen Buddhismus".

Als "esoterischer Buddhist" verstand sich damals der naturalistische Dramatiker, Theosoph und Alldeutsche Carl Bleibtreu, den Kraus ab September 1890 mehrfach in seinen Heften zu Wort kommen ließ. "Echte Gesinnung" - nämlich pangermanische - und "edle Selbstüberwindung" - nämlich des Protestantismus und der "modernen Pseudo-Kultur" - gingen bei Bleibtreu Hand in Hand. Damit war Buddha als Rammbock gegen Adel und Bürgertum in Stellung gebracht.

Buddha und Sonette

In Kraus’ Kaffeehausrunden verkehrte auch der aus Budapest stammende Schauspieler Ernst Reinhold (bürgerlich Ernst Hirsch), Freund und Jahrgangsgenosse von Oskar Kokoschka, 1909 Hauptdarsteller bei dessen Freiluftaufführung des Skandalstücks "Mörder, Hoffnung der Frauen". Kokoschka hat den avantgardistischen Rotschädel als "Trancespieler" mit einer vierfingrigen Hand in Öl porträtiert (siehe Abb.).

Wie der von dem Multitalent verehrte und geförderte Neumann bereiste auch Reinhold Ceylon, betrieb später Yoga in London und verfasste 1927 eine Schrift, die im Fahrwasser von Kraus der Pressehetze die Schuld am Weltkrieg zuschob. Sein besonderes Verdienst aber war die Herausgabe von Neumanns Übersetzungen im Piper Verlag.

1931 und 1934 begeisterte sich Kraus nachdrücklich für Reinholds fulminante Sprechakte am Burgtheater und in der Josephstadt. In einer Sternstunde der österreichischen Theatergeschichte hatte der Schauspieler dort 2000 Verse der Shakespeare-Dichtung in englischer Sprache frei aus dem Gedächtnis vorgetragen.

Das musste Kraus schon deshalb imponieren, weil er selbst dreizehn Dramen von Shake- speare vor zehntausenden Zuschauern vorgetragen hatte - allerdings ohne Aufmerksamkeit der Kulturpresse. Jetzt entdeckte die Wiener Theaterkritik tatsächlich "Buddhistisches bei Shakespeare" - nämlich das von Reinhold hinausgesungene Vergänglichkeitsprinzip, und dass die spruchartigen Sentenzen indischer Dramen auch formal mit Sonetten des 17. Jahrhunderts verwandt waren.

Freuds Buddha-Statue

Der buddhistische Sangha, die Gemeinschaft der Buddhisten, ist heuer zwar in Sektlaune, aber man sollte nicht übersehen, dass die Buddhalehre in Österreich schon einmal mehr war als eine Achtsamkeits- und Entschleunigungsideologie. Am Wiener Fleischmarkt, dem Zentrum der vor 30 Jahren staatlich anerkannten Österreichschen Buddhistischen Religionsgemeinschaft (ÖBR), erinnert sich heute niemand mehr, dass auch noch bei einem zweiten Geistesgiganten des 20. Jahrhunderts, bei Sigmund Freud in der Berggasse, dem Sessel gegenüber, in dem der Arzt während der psychoanalytischen Behandlungen saß, ein Buddha-Kopf aus Bronze stand.

Es ist vergessen, dass die Entdeckung des Unbewussten in den Anfängen der dynamischen Psychiatrie und die zeremonielle Heilung durch Reproduktion des Initialtraumas auch bei den meditativen Therapieverfahren aus Asien Anleihen nahmen.

Ein komplexes philosophisch-psychologisches Konstrukt wie der Buddhismus lässt sich keinesfalls auf chantende Ordensgemeinschaften, Tierschutz-Ethik oder den Dalai Lama als wiedergeborenen Bodhisattva reduzieren. In Österreich gibt es heute Vipas-sana- und Achtsamkeitsmeditationen der Theravada-Schulen. Zen-Suchenden stehen Sesshins und Retreats zur Verfügung. Der Vajrayana-Buddhismus wird durch tibetische Gemeinschaften und Sekten vertreten. Der japanische Laienorden Soka Gakkai ist ebenso präsent wie vietnamesische Richtungen.

Da alle monastischen Bekenntnisgemeinschaften in der Lehrtradition ununterbrochen bis auf den Buddha zurückreichen müssen, stellen sie heute eher das rückständigste Element des Buddhismus im Westen dar. Die Flanerie der Kaffeehäuser war zu allem bereit, sie folgte pragmatisch der Logik oder den Sinnen und ließ auch die bescheidensten und persönlichsten Erfahrungen als Erkenntnisweg gelten, wenn sie nur praktische Folgen hatten.

Wolfgang Koch ist österreichischer Publizist und bloggt seit 2006 für die "taz" in Berlin.