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Meditation über das Ende

Von Andreas Walker

Reflexionen
Memento mori: "Stillleben mit Schädel" (1895-1900) von Paul Cezanne. 
© wikimedia

Von Platon bis Heidegger haben sich Philosophen mit dem Tod beschäftigt. - Überlegungen zum "guten" und "schlechten" Sterben.


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"Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord", so lässt Albert Camus seinen "Mythos des Sisyphos" beginnen. Was Camus anhand des Absurden existenziell deutet, kann auch kulturgeschichtlich eingeordnet werden. Der Philosoph Thomas Macho hat zwischen "suizidalistischen" und "nonsuizidalistischen" Kulturen und Gesellschaften unterschieden, also zwischen Kulturen, die vom Selbstmord fasziniert sind, und solchen, die sich vom Selbstmord distanzieren, ihn tabuisieren und abwerten. Selbstmordaffine Gesellschaften müssen den Selbstmord keineswegs bloß heroisch bejahen, sie können gleichzeitig eine Selbstmordprävention installieren, während selbstmordaversive Gesellschaften Selbstmörder durchaus gewähren lassen können.

Freilich gab es zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Einstellungen zum Suizid. Bei den Stoikern war er akzeptiert, insofern eine chronische Erkrankung die Lebensqualität maßgeblich einschränkt; im Christentum wurde er als sündhaft betrachtet und in der Moderne pathologisiert. Wie Macho betont, ist die Frage nicht bloß, ob sich jemand das Leben nimmt, sondern welche Handlung, die das eigene Leben vorzeitig beendet, eine suizidale Tendenz aufweist. Jesus Christus, der im Garten Gethsemane am Abend vor seiner Gefangennahme zu Gott betet, der Kelch möge an ihm vorübergehen, hätte sich dieser durch Flucht entziehen können, doch er fügt sich Gottes Willen. Schon Sokrates hätte seinem Tod entgehen können, da seine Hinrichtung wegen einer Feierlichkeit aufgeschoben werden musste. Seine Freunde ermunterten ihn zur Flucht, doch Sokrates schlug aus. Es war für ihn unvorstellbar, das Gesetz zu brechen und im Exil zu leben.

Arten der Sterbehilfe

Mag das Exil auch die schlimmere Alternative als der Tod sein, mag es schlimmer sein, Gottes Willen zu missachten, selbst wenn man sterben muss, so lässt sich der Bejahung des eigenen Sterbens weder bei Sokrates noch bei Jesus die Freiwilligkeit absprechen. Aus dem einen suizidaffinen Akt geht die abendländische Philosophie hervor, aus dem anderen das Christentum.

Das Erbe jener Gründungsmythen, die Frage, inwiefern es moralisch zulässig ist, sein Leben vorzeitig zu beenden, bestimmt heute noch die ethischen Entscheidungen am Lebensende - mit unterschiedlichen rechtlichen Antworten. So ist die Tötung auf Verlangen in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg gestattet, der assistierte Suizid in der Schweiz rechtlich geregelt, und die hospizlich-palliative Sterbebegleitung, zu deren Handlungspraktiken auch die sogenannte indirekte und passive Sterbehilfe gehören, wird etwa in Österreich und Deutschland gesetzlich favorisiert. Eine Besonderheit besteht in Österreich darin, dass die "Mitwirkung am Selbstmord" (§ 78 StGB) mit dem gleichen Strafmaß wie die "Tötung auf Verlangen" (§ 77 StGB) bedacht wird: mit einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren.

Die Bejahung der Tötung auf Verlangen bzw. des assistierten Suizids führt immer wieder zu einem Unbehagen auf Seiten derer, die befürchten, dass diese Praktiken eine sogartige Vorbildwirkung entfalten könnten. Zudem rechnen diese mit einem massenhaften Anstieg von Tötungsfällen und assistierten Suiziden, wären die Tötung auf Verlangen und/oder der assistierte Suizid allgemein in Europa erlaubt. Ein europaweites Zulassen beider Praktiken wäre indes auch ein Eingeständnis, dass im Kern der abendländischen Kultur nicht nur das wie Odysseus umherirrende Individuum sitzt, sondern ebenso der emanzipierte Märtyrer mit Suizidtendenz. Dies wäre moralisch äußerst unbequem.

Schmerzfreiheit, eine gewisse Leichtigkeit beim Abschied vom Leben und ein Sterben ohne lange Krankheit gehören seit der Antike zu den Vorstellungen von einem guten Tod. Zudem soll der Mensch die Art und Wiese seines Endes möglichst selbst bestimmen können, wozu mittlerweile auch das Erstellen einer Patientenverfügung und/oder Vorsorgevollmacht zählt. Laut WHO gehört zu einem guten Sterben auch eine Verbesserung der Lebensqualität des unheilbar Erkrankten durch Linderung körperlicher, psychosozialer und spiritueller Leiden.

Dieser holistische Ansatz geht nicht zuletzt auf das "total pain"-Konzept von Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Hospizbewegung, zurück. Saunders ließ sich bei der Entwicklung ihres Konzepts vom österreichischen Neurologen und Psychiater Viktor Frankl beeinflussen, hatte der Begründer der Logotherapie doch die Suche des Menschen nach Bedeutung und Sinn unterstrichen, die gerade in Krisensituationen umso wichtiger wird. Die an Saunders anschließende Sterbebegleitung arbeitet demgemäß daran, jede Neigung zu frühzeitiger Beendigung des eigenen Lebens in eine Akzeptanz eines "natürlichen" Todes umzuformen und die Enttäuschung darüber, dass das Leben schon endet, mit einer Art Happy End zu trösten.

Störfaktor im Alltag

Gleichwohl ist und bleibt der Sterbende ein Störfaktor im Alltagsbetrieb, wie schon Lew Tolstoi in seiner Novelle "Der Tod des Ivan Iljitsch" zu erzählen wusste. Der unheilbar Erkrankte löst Beklemmung und Sprachlosigkeit aus, macht Mühe und Arbeit. "Gutes" Sterben umfasst ein intensives Management, an dem die Fachleute (Mediziner, Pflegekräfte, Seelsorger) ebenso teilhaben wie die Freunde und die Familie.

Sterben ist damit zu einer äußerst aufwändigen Angelegenheit geworden, die eigene Institutionen erfordert sowie professionelles Personal, das dem Sterbenden beim Sterben hilft. Voraussetzung hierfür ist, dass dem Sterbenden sein Sterben bekannt ist. Es ist ein jüngeres Phänomen, dass die Diagnose einer tödlichen Krankheit frühzeitig gestellt werden kann, sodass der Mensch eventuell noch Jahre mit dieser Krankheit, an der er versterben wird, lebt und sich so auf seinen Tod vorbereiten kann. Diese Form des Todes nannte der Soziologe Tony Walter "neo-modern" im Vergleich zu einem traditionellen Tod, der sich schnell vollzieht, und einem modernen, der - vor allem in Krankenhäusern - versteckt wird.

Idealerweise wird das Sterben vom Sterbenden und seinem Umfeld akzeptiert - und sollte erst dann eintreten, wenn die Lebensprojekte zum Abschluss gekommen sind. Das "gute" Sterben setzt somit auch ein "gutes" Leben voraus, bei dem nichts unerledigt bleibt. Das "gute" Sterben ist allerdings nicht bloß gut für den Sterbenden; es ist auch gut für alle, die mit diesem Prozess zu tun haben: Pflegende, Ärzte, Familie und Freunde.

"Schlechtes" Sterben wäre folglich charakterisiert durch Schmerz, Einsamkeit, Verzweiflung und Nichtakzeptanz des eigenen Sterbens. "Schlechte" Tode sind aber auch diejenigen, die nicht notwendig erscheinen, etwa, wenn jemand an einer Krankheit stirbt, die Resultat des Lebenswandels ist. Damit kann der Tod als Ergebnis einer Charakterschwäche betrachtet und moralisch umgedeutet werden.

Wer also einen "guten" Tod stirbt, über den wird die Nachwelt wohl auch nur Gutes sagen. Denn wer dem Tod ins Auge blicken kann, wer seine Angelegenheiten noch regelt, ein Testament aufsetzt, sein Begräbnis organisiert, der zeugt von einem moralisch starken Charakter. Im Gegensatz dazu kann, wer allein stirbt, moralisch dafür verantwortlich gemacht werden. Er ist vielleicht exzentrisch oder gar drogenabhängig. Aber die Schuldzuweisung betrifft nicht bloß denjenigen, der allein verstirbt. Denn diejenigen, die für ihn verantwortlich sind, die Familie, die Freunde, die Pflegekräfte, haben den Verstorbenen vielleicht vernachlässigt.

Daran lässt sich ersehen, dass Tode nicht an sich gut oder schlecht sind. Tode werden zu guten und schlechten gemacht, je nachdem, in welchem Rahmen sie erzählt werden. Ob ein Tod gut oder schlecht ist, ist das Resultat eines aktiven Prozesses, an welchem der Mensch in seiner Rolle als Sterbender ebenso beteiligt ist wie das soziale Umfeld.

Das Ideal des "guten" Sterbens ist in der Praxis allerdings nicht so leicht erreichbar. Es sind diagnostische Unsicherheiten, Patienten, die sich zu sterben weigern, Patienten, die zu schnell sterben, Patienten, die schnell sterben wollen, Verwandte, die das Sterben ausblenden oder den Sterbenden nicht gehen lassen wollen, Verwandte, die den Sterbeprozess beschleunigen wollen, zu wenig Personal, unterschiedliche Personalkulturen, Kostenengpässe, Ressourcenknappheiten, die ein "gutes" Sterben verhindern. Zudem ist das physische Leiden des Erkrankten nicht immer beherrschbar. Wenn das "gute" Sterben nicht realisierbar ist, so müssen sich die Beteiligten vielleicht mit einem Sterben zufrieden geben, das nicht gut, aber für die Situation gut genug ist, wie die Soziologin Beverly McNamara vorschlug.

Sterbens-Philosophien

Die Philosophie hat sich seit jeher als eine Meditation über den Tod verstanden. Die melete thanatou findet sich bereits bei Platon, war essenzieller Bestandteil der stoischen Haltung und zieht sich hin bis zu Montaigne, für den die Philosophie eine Einübung auf den Tod darstellte. Im 20. Jahrhundert ist Martin Heidegger ihr vielleicht prominentester Vertreter. Mit einer sokratisch-gelassenen Haltung wird keine Todesdrohung schrecklich sein können, wenn sich der recht Philosophierende bereits zu Lebzeiten auf den Tod eingerichtet hat. Ebenso riet auch Montaigne, sich den Tod jeden Augenblick vor Augen zu führen ("Memento mori").

Der englische Schriftsteller Thomas de Quincey nahm im 19. Jahrhundert diesen Gedanken auf und ergänzte ihn um einen eigentümlichen Aspekt. Er schrieb in den "Confessions of an English Opium-Eater": "Wir haben dem Tod ins Gesicht zu sehen. Aber wenn wir wüssten, was das Leben für Möglichkeiten bereithält (an manchen von uns werden sie verwirklicht) - könnten wir dann auch, ohne zu schaudern, gesetzt, wir würden dazu berufen, in der Stunde der Geburt dem Leben ins Gesicht sehen?"

Alle Meditation über den Tod könnte um eine Meditation über das Leben und seine Möglichkeiten bereichert werden - selbst wenn diese nicht angenehm und schön, sondern furchteinflößend und manchmal schrecklich sind.

Andreas Walker, geboren 1971 in Hamburg, ist Philosoph, Autor und Sozialforscher. Zuletzt erschienen von ihm zahlreiche Arbeiten zum Hospizwesen.