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Mediterran im Norden

Von Martyna Czarnowska

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Brüsseler Stadt-Skizzen, Teil II.


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Brüssel ist keine geordnete Stadt. Die Stadt, in der Gesetze beschlossen werden, die für die gesamte EU gelten, folgt ihren eigenen Regeln - und lässt auch Raum für Anarchie. Der Müll wird in Säcken einfach auf den Gehsteig gestellt. Aber in der richtigen Verpackung und zu vorgeschriebenen Zeiten. Geparkt wird überall, wo ein Auto Platz hat. Aber Lenker von Fahrzeugen mit ausländischen Kennzeichen, die ihren Wagen nicht rechtzeitig umgemeldet haben, müssen mit hohen Geldstrafen rechnen. In den Beisln herrscht Rauchverbot. Doch kaum durchstößt ein Sonnenstrahl die Wolkendecke, wird schon ein Tischchen vor das Lokal gestellt, an dem getrunken und geraucht wird. Als Aschenbecher fungiert der Boden.

Brüssel, behauptet so mancher, ist die am meisten mediterrane Stadt des Nordens. Das zeigt sich in einem gewissen Hang zum Laisser-faire. Das Französische dominiert übrigens in der Kommunikation, auch wenn jeder Straßenname, jede Aufschrift an einem öffentlichen Gebäude oder in Bus und U-Bahn ebenfalls auf Flämisch geschrieben wurde. Die dritte Landessprache, die der deutschen Minderheit, ist da schon weit seltener zu finden.

Die Mehrsprachigkeit in Brüssel geht allerdings weit darüber hinaus - nicht nur im EU-Viertel, wo gut zwei Dutzend Sprachen aus ganz Europa zu hören sind. Etliche mehr kommen rund um den Großen Platz hinzu, wo Touristen das gotische Rathaus, die vergoldeten Zunfthäuser sowie die kleine Statue eines pinkelnden Buben, Manneken Pis, fotografieren. Und dann gibt es noch das Sprachengewirr in den einzelnen Vierteln. Mehr als jeder vierte Einwohner Brüssels stammt nicht aus Belgien. Manche Wahlbrüsseler sind aus der ehemaligen Kolonie Kongo eingewandert; es folgten Marokkaner und Tunesier. In den 70er Jahren schon entstand eine portugiesische Gemeinschaft, auch zahlreiche Spanier kamen auf Jobsuche hierher. Rund um den Nordbahnhof ließen sich Einwanderer aus der Türkei nieder. In den Straßen unweit des wuchtigen Justizpalastes ist viel Polnisch zu hören. Die Betreiber der Night Shops, der in der Nacht geöffneten Greißlerläden, stammen oft aus Indien oder Pakistan.

Diese Vielfalt spiegelt sich wider in den Restaurants, die spanische oder indische Spezialitäten anbieten. In den Geschäften, in denen es polnische Wurst zu kaufen gibt. In den Kirchen, wo Messen in unterschiedlichen Sprachen gelesen werden. Und manches Mal in sozialen Spannungen und dem Gefühl der Entfremdung bei einigen Brüsselern aus belgischen Familien. Die Stadt prägen diese Menschen jedenfalls mehr als die EU-Arbeitsmigranten, von denen ein Teil sich nur in der eigenen EU-Blase bewegt. Doch auch dafür lässt Brüssel genug Raum.