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Medizin hält Studien zurück

Von Eva Stanzl

Wissen
Sie brachte positive Studien-Ergebnisse: Die 2009 zugelassene "Tomatenpille" beruht auf einer in reifen Paradeisern enthaltenen Substanz. Sie soll schädlichen Fetten im Körper binnen acht Wochen den Garaus machen. Foto: NTI

Experten: Negativ-Ergebnisse werden unter den Tisch gekehrt. | Geheimnis-Krämerei kostet Patienten das Leben. | Bonn/Wien. Geheimniskrämerei in der Gesundheitsforschung könnte in den vergangenen Jahrzehnten zehntausenden Menschen das Leben gekostet haben. Das geht aus einer Untersuchung des deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hervor. Die Forscher haben rund 60 Fälle zusammengetragen, in denen die Ausbreitung von Wissen in der Medizin behindert wurde.


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Dazu wurden hunderte von Fachartikeln und andere Quellen ausgewertet, unter anderem aus den Gebieten Psychiatrie, Schmerztherapie, Herz-Kreislauf- Medizin, Krebstherapie und Infektionskrankheiten. "Die Sammlung liest sich wie ein Skizzenbuch zu einer Krimiserie", so die Autoren.

Vor allem das Verschweigen negativer Untersuchungsergebnisse bei neuen Medikamenten sei weit verbreitet. Eine Analyse von 90 in den USA zugelassenen Medikamenten zeige, dass diese in insgesamt 900 Studien erprobt worden seien, jedoch selbst fünf Jahre nach der Zulassung 60 Prozent der Studien noch nicht veröffentlicht worden seien. Bei anderen Studien würden oft nur ausgewählte Ergebnisse veröffentlicht.

"Dadurch werden Studienergebnisse oft positiver dargestellt, als sie sind", berichtet Studienautorin Beate Wieseler, Stellvertretende Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung des Bonner Instituts. In der Wissenschaft wird das Phänomen "publication bias" genannt - oder: "Verzerrung durch selektives Veröffentlichen".

Auslöser für die Suche nach dokumentierten Beispielen für "publication bias" waren eigene Erfahrungen des IQWiG - zuletzt bei der Bewertung des Medikaments Reboxetin zur Behandlung von Depression. Das Pharmaunternehmen Pfizer hatte dem IQWiG erst unter öffentlichem Druck Studien zur Verfügung gestellt, die es bis dahin unter Verschluss gehalten hatte. Und in diesen unveröffentlichten Studien schnitt Reboxetin erheblich schlechter ab, als es zuvor anhand der veröffentlichten Studien den Anschein hatte. "Über viele Jahre wurden Patienten und Ärzte getäuscht", betont Wieseler.

Eine besonders hohe Korrelation zwischen Eigeninteressen und publizierten Resultaten ortet das IQWiG bei von Pharmafirmen durchgeführten Studien. Zitiert wird zudem eine Analyse, in der 2000 Studien im Bereich der Krebsmedizin nach Geldgebern getrennt ausgewertet wurden: Von den industriefinanzierten Projekten waren 94 Prozent nicht veröffentlicht, von den durch Universitäten finanzierten Projekten fehlten 86 Prozent. Auch Zulassungsbehörden müssen demnach aufgrund von gesetzlichen Regelungen Daten zurückhalten.

Schädliche Therapien

Leidtragende sind häufig die Patienten. Wenn Misserfolgsmeldungen unveröffentlicht bleiben, "setzen Ärzte und Patienten häufig Therapien ein, die in Wahrheit nutzlos oder sogar schädlich sind", so Wieseler. Etwa gehen Forscher heute davon aus, dass in den 1980er Jahren verschriebene Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen zehntausenden Menschen das Leben gekostet haben, weil frühe Hinweise auf gefährliche Nebenwirkungen nicht veröffentlicht worden seien.

"Bei registrierten Studien werden die Ergebnisse zurückgehalten, weil die untersuchten Präparate schlechter oder gleich gut funktionieren wie das Kontrollprodukt. Das färbt die Resultate der Evidenz-basierten Medizin rosa ein", bestätigt Claudia Wild vom Ludwig Boltzmann Institut für Health Technology Assessment in Wien: "Pharmafirmen wollen den Markt und medizinische Forscher stets neue Sensationen publizieren." Kann man überhaupt noch auf die Medikamente vertrauen, die der Arzt verschreibt? Wild umschreibt es so: "Wenn Sie Ihrem Hausarzt vertrauen, dann vielleicht ja."