Ärzte müssen sich mehr Zeit für ihre Patienten nehmen können.
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Unter dem Deckmantel von Prävention und Vorsorge beobachten wir in der modernen Medizin zunehmend die prophylaktische Verschreibung von Medikamenten. Jede Befindlichkeitsstörung, jeder von der Norm abweichende Befund wird reflexartig mit einer Tablette behandelt. Jede vorübergehende Traurigkeit wird zur Depression, jeder leicht erhöhte Blutdruck zur lebensbedrohlichen kardiovaskulären Erkrankung. Wenn jeder etwas niedrigere Vitamin-D-Spiegel und jedes leicht erhöhte LDL-Cholesterin sofort medikamentös korrigiert werden soll, gibt es in diesem Land bald keine gesunden Menschen mehr, sondern nur noch schlecht Untersuchte.
Nicht dass Vorsorge schlecht wäre, aber ausufernde Medikationslisten führen häufig zu unterschätzten Neben- und Wechselwirkungen. Unerkannte gastrointestinale Blutungen sind erschreckend häufig tödliche Nebenwirkungen von komplexen blutverdünnenden Medikationen. Durch einen leichtfertigen Umgang mit Medikamenten schaffen wir für die Patienten zuweilen ein höchst gefährliches Umfeld. Wir helfen in Bezug auf die Erkrankung A, verursachen dabei aber die Erkrankung B.
Die Kontrolle von polypharmakologischen Therapien und die Behandlung von Medikationszwischenfällen füllen einen ernstzunehmenden Teil des täglichen Medizinbetriebes aus. Oft bleibt nur wenig Zeit für neue Patienten. Wartezeiten von drei bis vier Wochen bis zu einer onkologischen Ersttherapie sind leider keine Seltenheit.
Im Jahr 2020 gab es in österreichischen Spitälern 3.996.670 - also fast vier Millionen - medizinische Leistungen während stationärer Aufenthalte; pandemiebedingt waren das ohnehin um 12 Prozent weniger als im Jahr davor. Von Jahr zu Jahr werden mehr Operationen durchgeführt. In kaum einem anderen Land der Welt werden mehr Knie- oder Hüftendoprothesen implantiert als in Österreich. Es ist allerdings eher unwahrscheinlich, dass österreichische Knie und Hüften im Vergleich zum Rest der Welt derart überproportional anfällig sind. Der Wirtschaftskomplex Medizinindustrie boomt. Zufallsbefunde fluten den medizinischen Alltag.
Das Gesundheitssystem ist kostspieliger denn je. Um es finanziell am Leben zu erhalten, müssen genügend Patienten durch das System geschleust werden. Tag und Nacht wird untersucht, kontrolliert, operiert und therapiert. Dabei wäre ein großer Teil dieser ärztlichen Leistungen gar nicht notwendig. Manche davon schaden den Patienten sogar. Eine Reduktion der ärztlichen Leistungen auf das Notwendige würde vielleicht auch die Zahl der unerwünschten Nebenwirkungen verringern.
Der Satz "Primum non nocere" ("Zuerst einmal nicht schaden") ist ein essenzieller Bestandteil des Hippokratischen Eides, den wir Ärzte leider schon lange nicht mehr ablegen. Die volle Aussage der Passage lautet: "Primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare" - ". . . zweitens vorsichtig sein und drittens heilen." Nicht zu schaden muss wieder die oberste Priorität im Medizinbetrieb werden.
Zuhören, Empathie, Zeit und kontrolliertes Zuwarten sind in der Hand des Geübten nebenwirkungsarme und kostengünstige therapeutische Mittel.