Bei den Parlamentswahlen kann die Regierungspartei La Republique en Marche erneut auf eine Mehrheit hoffen.
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Mundspiegel, Zahnbohrer, Spritzen - all diese Werkzeuge hat Christophe Arend ausgetauscht gegen Aktenordner, Partei-Richtlinien und Gesetzesinitiativen. Seine Praxis in Forbach, einem Städtchen direkt an der Grenze zu Deutschland, hat der ehemalige Zahnarzt verkauft, als er vor fünf Jahren als Abgeordneter der Präsidentenpartei La République en marche, kurz LREM, ins französische Parlament einzog.
Gründe für diesen Wechsel gab es mehrere, erzählt der 46-Jährige im Gespräch. "Viele meiner Patienten beschwerten sich über die Politik, und ich wollte mich schon seit langem engagieren, um dazu beizutragen, die Dinge zu verbessern." Ihn sprach an, dass der Newcomer Emmanuel Macron die politische Mitte verkörperte, Ideen von rechts und links in sein Programm einbaute, um ideologische Gräben zu überwinden. Hinzu kam, dass im Wahlkreis von Forbach der Rechtsextreme Florian Philippot, damals noch ein Vertrauter von Marine Le Pen und Verfechter eines EU-Austritts Frankreichs, gute Chancen bei den Parlamentswahlen hatte. "Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich Deutschland", sagt Arend. "Ich fand es absurd, dass ausgerechnet in unserer Grenzregion Europa angegriffen wurde."
Bei den Parlamentswahlen am 12. und 19. Juni kämpft Arend nun um seine Wiederwahl, so wie Macrons Partei erneut auf ein starkes Ergebnis hofft. Aber LREM ist diesmal keine neue und unverbrauchte Kraft mehr, sondern muss die eigene Bilanz verteidigen. Stärkster Herausforderer ist das Linksbündnis NUPES, in dem sich Sozialisten, Grüne und Kommunisten dem radikalen Linken Jean-Luc Melenchon angeschlossen haben. Im Fall eines Sieges will der scharfe Macron-Kritiker Melenchon Premier werden - dann stünden aufregende Zeiten mit einer sogenannten "Kohabitation" und der langwierigen Suche nach Kompromissen an.
Mit den Bürgern für die Bürger
2017 gehörte Arend zu den 55 Prozent der LREM-Abgeordneten, die nie zuvor ein politisches Amt ausgeübt hatten. Als Neulinge waren sie zwar unerprobt im politischen Betrieb, aber sie brachten einen frischen Blick und konkrete berufliche Erfahrungen ein. In den anderen französischen Parteien gibt es viele reine Berufspolitiker. Demgegenüber hatte Macron angekündigt, dass "die politische Erneuerung durch Frauen und Männer aus der Zivilgesellschaft" vorangetrieben werden soll. Dies war Teil seines Versprechens, anders zu regieren - näher an den Bürgerinnen und Bürgern, die stärker miteinbezogen werden sollten.
Macron hatte im April 2016, als er noch Wirtschaftsminister unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande war, seine Bewegung "En marche!" ("In Bewegung!") gegründet - der Name ergab seine Initialen, "EM". Der Beitritt war kostenlos und mit ein paar Klicks im Internet erledigt. Seine Anhänger gingen damals von Tür zu Tür, um mit den Menschen über ihre Sorgen und Erwartungen zu diskutieren und deren Vorschläge anschließend in das Programm der Bewegung einfließen zu lassen. Tatsächlich erreichte Macrons schließlich in LREM umbenannte Partei kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung von 308 der 577 Sitze. Der junge Staatschef bekam damit quasi eine Art Blankoscheck zur Umsetzung seiner Ideen.
Die Neo-Parlamentarier erhielten in den ersten Wochen einen "Crash-Kurs" für ihre künftige Arbeit. Aber um mit ihr vertraut zu werden, hieß es vor allem: "Ärmel hochkrempeln", sagt Christophe Arend. Der frühere Zahnarzt, der fließend Deutsch spricht, gründete etwa eine neue Arbeitsgruppe für die deutsch-französische Zusammenarbeit und wurde ihr Vorsitzender. Gemeinsam mit dem CDU-Abgeordneten Andreas Jung engagierte sich Arend für die Institutionalisierung der bilateralen Beziehungen. So trugen sie zum Aachener Vertrag, der 2019 die Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit festschrieb, sowie zur Gründung einer Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung bei. "Man ließ mir freie Hand, und ich fand mich auf Augenhöhe mit den diplomatischen Beratern des Präsidenten wieder", sagt Arend.
Misstrauen gegenüber Parteien
Emmanuel Riviere, Direktor für den Bereich Internationales beim Politik- und Meinungsforschungsunternehmen Kantar Public, sieht LREM hingegen eher als eine Art politischer "Fanclub", der Macron half, seine Projekte ohne Hindernisse umzusetzen. "LREM hat sich nicht wirklich als Partei aufgestellt, was den Trend in der französischen Politik widerspiegelt, die sich um Persönlichkeiten herum strukturiert", sagt Riviere. Die drei Politiker, die bei der Präsidentschaftswahl im April am stärksten abschnitten, nämlich Macron, Le Pen und Melenchon, stünden jeweils als charismatische Persönlichkeiten Bewegungen vor, in denen weder interne Konkurrenz noch Demokratie herrsche. "Ihr Erfolg speist sich aus dem massiven Misstrauen der Französinnen und Franzosen gegenüber den traditionellen Parteien", sagt Riviere. Viele Menschen hätten den Eindruck, diese seien weit entfernt von ihrer Lebenswirklichkeit.
Doch auch LREM sei entgegen der Erwartungen nicht zu einer Instanz für neue Ideen und Vorschläge, meint Riviere. "Der Präsident kümmerte sich wenig um die Partei und setzte auch keine starke Führungsfigur an ihre Spitze." Die Schwergewichte in der Regierung seien ehemalige Republikaner oder Sozialisten, aber keine Vertreter der Zivilgesellschaft. Auch die lokale Verankerung in anderen Regionen gelang LREM als Pariser Partei nicht, bei regionalen und kommunalen Wahlen erlitt sie schwere Niederlagen. "Sollte es bei den Parlamentswahlen für einen Sieg reichen, dann vor allem, um Macron erneut zu einer Mehrheit zu verhelfen, nicht dank der lokalen Stärke", ist der Meinungsforscher überzeugt.
Laut einer Studie des Think Tanks Terra Nova aus dem Jahr 2018 verfügten 80 Prozent der LREM-Mitglieder über eine Universitätsausbildung und ein gutes Einkommen. Sie verband einerseits eine pro-europäische Haltung und andererseits die Persönlichkeit Macrons. Doch die große Frage dahinter bleibt: Was wäre die Partei ohne ihren Gründer? Was wird von ihr bleiben, wenn er 2027 aus dem Amt scheidet, weil die französische Verfassung nur zwei aufeinanderfolgende Mandate erlaubt?
Eine klar definierte programmatische Linie gibt es jedenfalls nicht, und dies führte auch zu Enttäuschungen. Mehrere Dutzend Mitglieder verließen die Fraktion und behielten ihre Sitze lieber als Unabhängige, sodass die Partei nach drei Jahren ihre absolute Mehrheit verlor. Ein Teil der Dissidenten störte sich an der autoritären und zentralistischen Parteiführung: Die Vorgaben kamen von den Parteistrategen aus Paris, die wenig Interesse an basisdemokratischer Arbeit zeigten. Andere verließen die Fraktion aufgrund von inhaltlichen Differenzen. Macrons Asyl- und Einwanderungsgesetz mit einer Verschärfung der Zuwanderungsregeln sowie ein Sicherheitsgesetz mit einer Ausweitung der Möglichkeiten polizeilicher Überwachung lehnten vor allem Abgeordnete ab, die sich zum linken Parteiflügel zählten.
Philippe in den Startlöchern
Zu den besonders selbstbewussten Kritikerinnen aus den eigenen Reihen gehörte die 39-jährige Sonia Krimi, die mehrmals mit Gegenpositionen zur restriktiven Migrationspolitik der Regierung auffiel. Trotzdem blieb sie in der Partei: "Solange man nicht als Sprecher der Ministerkabinette auftreten muss, ist das in Ordnung für mich", sagt sie. Bei der anstehenden Parlamentswahl tritt Krimi erneut für LREM an, das sich im Juli in "Renaissance", also "Wiedergeburt", umbenennt: ein weiteres Versprechen Macrons für einen neuen Aufbruch. Um endlich mehr interne Demokratie zuzulassen?
Das bleibt fraglich: Es heißt, der Präsident habe die Kandidatinnen und Kandidaten persönlich mit ausgewählt. Nicht in allen Wahlbezirken wurden eigene Leute aufgestellt. Um die Chance zu vergrößern, dank Allianzen eine Mehrheit zu erringen, hat sich LREM mit anderen Parteien zusammengeschlossen, darunter auch "Horizons", der neuen Partei des ehemaligen Regierungschefs Edouard Philippe. Dieser hat Macrons Wunsch, gemeinsam eine "neue, offene Volkspartei" zu gründen, abgelehnt, weil er seine Unabhängigkeit behalten will. Philippes Ambitionen, in fünf Jahren bei der Präsidentschaftswahl anzutreten, gelten als offenes Geheimnis. Dafür braucht er aber eine eigene Partei im Rücken - auch wenn es sich wieder einmal um eine auf den Chef zugeschnittene Bewegung handeln dürfte. "Edouard Philippe ist zurzeit der beliebteste Politiker des Landes, aber 49 Prozent der Menschen kennen seine Partei nicht", sagt Emmanuel Riviere.