Zum Hauptinhalt springen

Mehr als die Hälfte der Vertriebenen minderjährig

Von Frank Brandmaier

Politik

Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 25 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Skopje/Tetovo · Über Nacht ist Osman Mejzinolli Schulleiter geworden. Doch die Bänke sind nicht mehr als ein paar Holzbalken unter freiem Himmel. Ein einfacher Klapptisch ist das

Lehrerpult in der ersten Schule des Lagers für Kosovo-Flüchtlinge in der mazedonischen Kleinstadt Tetovo. Seit Dienstag gibt der Kunstprofessor aus Pristina mit anderen Vertriebenen täglich bis zu

100 Kindern Unterricht in Kunst, Mathematik, Albanisch.

Ein Stück Normalität unter den Bedingungen des Krieges inmitten des Dramas um Hunderttausende von Flüchtlingen.

Mehr als die Hälfte der Vertriebenen des Kosovo-Krieges sind nach Schätzungen der Vereinten Nationen Kinder; manche von ihnen haben auf der Flucht vor serbischen Truppen ihre Eltern verloren. Doch

genaue Zahlen gibt es nicht.

"In jedem Krieg leiden vor allem die Kinder, und die humanitäre Krise im Kosovo ist keine Ausnahme", sagt der UN- Vertreter für Kinder und bewaffnete Konflikte, Olara Otunnu.

"Wir wollen ihnen hier ein Stück von dem geben, was wir in der Heimat lassen mußten", sagt Mejzinolli. Bücher gibt es nicht. Die vier Lehrer, Flüchtlinge wie er, gestalten den Unterricht aus dem

Stegreif. "Vor allem Kinder brauchen Kontinuität, besonders bei der schulischen Ausbildung", fordert UNO-Experte Otunnu · nicht zuletzt, um die Eindrücke von Flucht und Vertreibung zu bewältigen.

"Die Kinder sind offenkundig stark traumatisiert von der Gewalt, die sie beobachten mußten, was sich aber nicht immer unmittelbar zeigt."

So ist es auch im Lager Tetovo. Fast ein Drittel der rund 3.200 Flüchtlinge dort sind Kinder, und die Kieswege zwischen den olivgrünen Zelten sind ihr Revier. Mädchen und Jungen toben umher,

die dort stationierten deutschen Soldaten sind als Spielkameraden begehrt. "Das ist offenbar etwas ganz Besonderes für sie", sagt der Hauptgefreite Sven Krehel.

In seiner knappen Freizeit spielt er mit den Flüchtlingskindern Frisbee oder er bringt ihnen das Zählen von eins bis zehn auf deutsch und englisch bei. "Die lernen unheimlich schnell", weiß der

deutsche Soldat aus Schneeberg in der Nähe von Chemnitz. Auf den ersten Blick gibt es kaum ein Zeichen von psychischen Schäden.

Olara Otunno warnt dennoch. Nach UNO-Schätzungen wurde rund die Hälfte der aus dem Kosovo geflohenen Familien auseinandergerissen und hat an verschiedenen Orten Zuflucht gesucht. Wer seine

Angehörigen wiederfinden will, braucht großes Glück. In einer Agenda fordert der UNO-Experte neben psychologischer Sofortbetreuung die Begleitung der Flüchtlingskinder über längere Zeit, um

rechtzeitig Signale von Traumatisierungen zu erkennen. "Daß es Schäden gibt, wissen wir, nur nicht, in welchem Ausmaß." Völlig unklar ist derweil die Verfassung jener Buben und Mädchen, die noch

innerhalb des Kosovos unterwegs sind. Bis Programme Wirkung zeigen, sind die Flüchtlingskinder auf die Initiative einzelner angewiesen. In Tetovo sammelten die deutschen Soldaten Geld, um Süßigkeiten

zu kaufen. Aus Holz und alten Bettgestellen zimmern sie provisorische Schaukeln und Klettergerüste, nehmen die Kindern immer wieder bei der Hand oder in den Arm. "Das ist ist das, woran man sich am

meisten erinnern wird." In diesem Punkt ist sich Hauptgefreiter Sven Krehel sicher.