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Mehr als ein simpler Faktencheck

Von Manfred Deistler und Peter Brandner

Gastkommentare

Insbesondere der Wirtschaftspolitik sollte ein wissensbasierter Ansatz zugrunde liegen. Dazu bedarf es einer entsprechenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Infrastruktur.


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Im Regierungsprogramm 2017 bis 2022 findet sich im Abschnitt "Integration" der Satz: "Für eine erfolgreiche Integrationsstrategie bedarf es wissenschaftlicher Grundlagen und wissenschaftlicher Begleitung." Wir erachten diese Aussage als vorbildlich und wichtig. Ein wissensbasierter Ansatz sollte allerdings weit über die Integrationspolitik hinaus politischem Handeln zugrunde liegen, insbesondere in der Wirtschaftspolitik. Dies gerade angesichts der gegenwärtigen Situation in Österreich, in der die Argumente in der politischen Debatte oft nach kurzfristig-taktischen und boulevardtauglichen Erwägungen erfolgen.

Geplante Maßnahmen der Regierung wie auch Forderungen der Opposition werden in zu geringem Umfang einer klärenden Diskussion in den Medien unterzogen. Auch die sogenannten Faktenchecks in den Medien greifen unseres Erachtens zu kurz: Die zu prüfenden "Fakten" sind selten bloß eindeutig zu messende Daten. Die "Fakten" sind meist Aussagen, die in der Regel Kenntnis und Verständnis der dahinterliegenden statistischen Messkonzepte voraussetzen und in Folge nur im Rahmen eines theoriebasierten Rahmens interpretiert und somit bewertet werden können. Daher erachten wir die systematische Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundlagen und wissenschaftliche Begleitung als wesentlich für die Verbesserung des Niveaus der politischen Diskussion und damit letztlich für die Qualität der politischen Entscheidungen. Notwendig ist somit - neben der Vermittlerfunktion der Qualitätsmedien - auch eine entsprechenden wissenschaftliche Infrastruktur, um evidenzbasierte Politik sicherzustellen.

Evidenzbasierte
Wirtschaftspolitik

Um dem Paradigma der evidenzbasierten Ökonomie und insbesondere einer evidenzbasierten Wirtschaftspolitik in Österreich vermehrt Geltung zu verschaffen, braucht es also:

eine neue, (nicht nur auf Universitäten beschränkte) ausreichende wissenschaftliche Infrastruktur (etwa Daten- und Methodenbanken, "Produktionsketten" genügender Größe);

neue Finanzierungsmechanismen;

eine Medienlandschaft, die die produzierten Erkenntnisse und Einschätzungen kompetent bewertet und kommuniziert.

Vorbilder
im Ausland

International gesehen hat die Wirtschaftsforschung in den vergangenen 15 Jahren einen beachtlichen Innovationsschub erlebt. Die Verfügbarkeit von großen Datenmengen ("Big Data"), großen Rechenkapazitäten und modernen statistischen Methoden zur Datenauswertung sowie die Fortschritte in den Wirtschaftswissenschaften haben eine qualitativ neue Situation für die Wirtschaftsforschung und die Politikberatung geschaffen. Das Paradigma der evidenzbasierten Ökonomie lässt sich heute in weitem Umfang realisieren, wie Vorbilder zeigen, etwa die Forschungsaktivitäten im US Federal Reserve System oder am Institute for Fiscal Studies in London. Auch in Deutschland haben die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in den vergangenen zehn Jahren einen beachtlichen Umstrukturierungsprozess vollzogen.

Ein Kennzeichen dieser Entwicklung ist der enge wissenschaftliche Austausch mit der akademischen Forschung, auch durch die Einrichtung von Doktoratsprogrammen, etwa am DIW in Berlin oder am CESifo in München. Ganz allgemein ist eine geeignete Forschungsinfrastruktur mit entsprechend langen Produktionsketten von der Erstellung großer Datenbanken über die Methodenentwicklung bis hin zur Politikberatung erforderlich, die intensive Kommunikation und Erfahrungsaustausch entlang solcher Ketten ermöglicht.

Die Situation
in Österreich

Was Österreich betrifft, so erachten wir die Situation als durchaus verbesserungsfähig. Die Produktionskette "Forschung - post-graduale Ausbildung - angewandte Forschung - Beratung" existiert nicht in geeignetem Ausmaß. Im Gegenteil: Am Institut für Höhere Studien (IHS) wurden die Vorlesungsprogramme eingestellt, an den Universitäten ist durch die Kleinteiligkeit der Strukturen die einschlägige Forschung eingeschränkt. Ein Technologieschub wäre angezeigt, diesen genauer zu skizzieren, ist hier aus Platzgründen nicht möglich.

Unabhängige
Finanzierung

Die Etablierung und Aufrechterhaltung der Forschungsinfrastruktur erfordert nicht nur eine Finanzierung, sondern auch Finanzierungssicherheit. Ein Wettbewerb der Ideen und Argumente ist nicht nur ein starkes Instrument gegen Ideologisierung, auch die Politik profitiert etwa von Ausschreibungen bei Gutachten oder Gegenexpertisen. Der frühere IHS-Direktor Christian Keuschnigg hat auf die Probleme hingewiesen, wenn etwa (nicht nur) das Wifo oder IHS im Rahmen intransparenter Entscheidungsvorgänge hohe Grundsubventionen wie auch Aufträge von Ministerien bekommt, deren Politik es unter Umständen kritisch hinterfragen soll.

Eine öffentliche Grundfinanzierung sollte nur auf Basis einer unabhängigen, regelmäßigen wissenschaftlichen Evaluierung der Forschungsinstitutionen erfolgen, wie dies zum Beispiel in Deutschland durch die Leibniz-Gesellschaft geschieht. So wäre die Finanzierung der direkten Entscheidungsgewalt der Politik entzogen. Entwicklungen, die als Griff der Politik nach Einfluss auf Institute interpretiert werden können, machen obige Überlegungen aktueller denn je.

Die Pflicht
der Medien

Da Medien die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen, beeinflussen sie so auch - im Gegensatz zur Wissenschaft - die Politik. Wie sollen aber Qualitätsmedien beziehungsweise deren Journalisten in der Flut der Meldungen eine Gatekeeper-Funktion wahrnehmen, wenn die Einschätzung, Ökonomie sei keine Wissenschaft, sondern ein Schlachtfeld verschiedener Betrachtungsweisen, verbreitet ist?

Zu unterscheiden sind bloß spontane Wortspenden - im Gegensatz zu Aussagen, die mit Studienergebnissen belegt beziehungsweise verknüpft werden. Ergebnisse und Schlussfolgerungen mit Verweis auf eine Studie sollten nur dann mediale Aufmerksamkeit erlangen, wenn auch gleichzeitig diese Studie verfügbar gemacht ist. Dies gilt insbesondere auch für öffentliche Auftraggeber - wo häufig diese Transparenz fehlt, obwohl diese Studien mit Steuergeldern finanziert sind. Solange das Ärgernis der Schubladenstudien besteht, ist eine politisch gesteuerte Fehlinterpretation der Medien nicht auszuschließen. Ein Skandal entsteht nicht, wenn Wissenschafter Fehler machen, sondern wenn Studien für politische Zwecke missbraucht werden.

Die Qualität der (wirtschafts-)politischen Beratung ist mitentscheidend für die Qualität der Politik und damit für den Wohlstand des Landes. Die hier angedeuteten Überlegungen könnten ein Schritt sein, das zweifellos vorhandene Potenzial besser zu nutzen.