Zum fünften Mal in dreieinhalb Jahren wählen die Israelis. Ein System mit antidemokratischen Tendenzen droht.
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Vor 26 Jahren wurde Benjamin Netanjahu erstmals Ministerpräsident Israels. Mittlerweile ist er 73 und "nur" noch Anführer der Opposition. Ein Abschied aus der Politik kommt für den Chef des nationalkonservativen Likud aber nicht infrage. Bei der Parlamentswahl am Dienstag will es "Bibi" nochmals wissen und danach wieder die Regierungsgeschäfte übernehmen, die er 2021 abtreten musste.
Die Beharrlichkeit Netanjahus ist ein zentraler Grund, weswegen die Israelis schon wieder zu den Urnen gerufen werden - zum fünften Mal binnen dreieinhalb Jahren. Für "Bibi" oder gegen ihn? Diese Frage überlagert das ohnehin komplexe religiöse, ethnische und soziale Gefüge, wenn es um die Bildung politischer Allianzen geht. Die gescheiterte Anti-Netanjahu-Regierung bestand aus acht Parteien von links bis rechts, aus Säkularen und Nationalreligiösen und erstmals auch aus einer arabischen Partei. Sie zerbrach an der Frage, ob israelisches Recht auch auf Siedler in den besetzten Palästinensergebieten angewendet wird. Premier Naftali Bennett gab im Juni auf. Seine Partei stürzte ab und wird nicht mehr in der neugewählten Knesset vertreten sein.
"Tod den Arabern"
Zehn Bündnissen oder Parteien gelingt nach jetzigem Stand der Einzug ins Parlament. Die altbekannte Zersplitterung setzt sich fort. Doch Netanjahu taktiert wesentlich besser als seine Gegner und schafft sich eine gute Ausgangsposition für die Mehrheit von 61 der 120 Sitze: Sein Likud bleibt Umfragen zufolge stärkste Kraft und stellt knapp über 30 Abgeordnete. Zwei ultraorthodoxe Parteien sorgen für weitere 15 Mandate. Um die Hürde von 3,25 Prozent für den Knesset-Einzug zu meistern, betrieb Netanjahu ein Bündnis von zwei rechten Parteien: Die Religiösen Zionisten könnten von bisher sechs auf 14 Mandate zulegen.
Teil dieser Gruppierung, die Chancen hat, drittstärkste Kraft im Parlament zu werden, ist Itamar Ben-Gvir. Dessen ideologische Wurzeln liegen in der faschistischen Bewegung von Rabbi Meir Kahane, die in den 1980ern verboten wurde. Ben-Gvi lebt als Siedler in Hebron und posierte einst unter einem Bild von Baruch Goldstein, der 29 Muslime im Jahr 1994 ermordet hatte. Goldstein sei heute zwar "kein Held" mehr, zitiert die "Süddeutsche Zeitung" Ben-Gvi. Aber erst im Mai marschierte er mit einer Gefolgschaft durch Jerusalem, die "Tod den Arabern" skandierte.
Gewinnt das Lager Netanjahus, erhält Israel nicht nur einen rechtspopulistischen Regierungschef, dem Betrug, Untreue und Bestechlichkeit vorgeworfen wird. Als erster Premier Israels steht Netanjahu auch vor Gericht. Er sieht sich als Opfer und diskreditiert die Justiz - wie sein enger Verbündeter, Ex-US-Präsident Donald Trump. Netanjahu würde eine "ultranational/rechtsreligiöse Regierung, die alle ihre Vorgängerregierungen in den Schatten stellen würde", anführen, schreiben Mitarbeiter des Israel-Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, die der deutschen CDU nahesteht, in einer Analyse. Sie schlussfolgern, bei der Wahl gehe es um nicht weniger als einen "Entscheid für ein populistisches System mit antidemokratischen Tendenzen oder für einen liberaldemokratischen Parlamentarismus".
Zwar gibt es auch im Anti-Netanjahu-Lager nationalistische Kräfte, etwa Yisrael Beitenu unter Avigdor Lieberman, der Minister unter "Bibi" war. An der Spitze steht mit Übergangspremier Jair Lapid aber ein klarer Verfechter der liberalen Demokratie. Seine Partei Yesh Atid kann mit starken Stimmenzuwächsen rechnen. Dafür erodiert das linke Lager weiter. Von der Arbeitspartei, die Israel in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz dominierte, ist nur noch ein kümmerlicher Rest übrig. Nur vier Mandate werden ihr vorausgesagt; ebenso wenige wie der linksliberalen Meretz.
Kein Frieden in Sicht
Anders als im Netanjahu-Lager gelang es aber nicht, beide Parteien zu einem Bündnis zu bewegen. Bei der Vereinten Liste arabischer Parteien passierte gar das Gegenteil, sie spaltete sich. Sollte Jair Lapid eine Mehrheit abseits des Netanjahu-Blocks zustande bekommen, steht er vor der nahezu unlösbaren Aufgabe, eine dauerhaft stabile Regierung zu formen.
Währenddessen ist der Konflikt mit den Palästinensern so blutig wie zuletzt während der zweiten Intifada in den Nullerjahren. Eine Serie von Terroranschlägen forderte im Frühjahr 19 Tote in Israel. Im Westjordanland hat sich eine neue Gruppierung namens "Höhle der Löwen" gebildet, die in den vergangenen Wochen Anschläge verübte. Bei Gegenangriffen der israelischen Armee starben diese Woche sechs Palästinenser. Die Armee führte im Westjordanland eine große Operation durch, Premier Lapid möchte sich nicht dem Vorwurf aussetzen, er demonstriere Schwäche und handle nicht.
Prinzipiell befürwortet er eine Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israel und den Palästinensern, ganz im Sinne der meisten EU-Staaten und der US-Administration. Doch schon seit acht Jahren gibt es keine Friedensverhandlungen. In einer instabilen Koalition hätte Lapid kaum ein Mandat für einen neuen Anlauf. Und Netanjahu sucht diesen erst nicht.