Was evolutionsgeschichtlich Vorteile hatte, lässt heute viele Menschen leiden.
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Hamburg. Die typischen Symptome sind ständige Unruhe und unbändiger Bewegungsdrang, extreme Stimmungsschwankungen, die Beeinträchtigung des Vermögens, die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben, ein ziemlich störungsanfälliges Gedächtnis, leichte Ablenkbarkeit und - aber nicht immer - mehr oder weniger starke Konzentrationsstörungen. Dies alles ist charakteristisch für das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS). Ob es sich dabei überhaupt um eine regelrechte Krankheit handelt, die mit Medikamenten wie Ritalin behandelt werden muss, ist nach wie vor heftig umstritten. Sicher ist nur, dass diese Störung bis zu einem gewissen Grad genetisch bedingt ist und in der westlichen Welt derzeit zwischen 4 und 25 Prozent der Kinder im Grundschulalter unter ihr leiden - wobei Buben davon wesentlich häufiger betroffen sind als Mädchen.
Diese beiden Umstände lassen darauf schließen, dass es irgendwann in der Evolutionsgeschichte von Vorteil im Überlebenskampf gewesen sein könnte, für dieses Syndrom anfällig zu sein. Hierauf deuten Befunde hin, zu denen der US-amerikanische Anthropologe Dan Eisenberg (Northwestern University in Evanston) und seine Mitarbeiter gelangt sind.
Die Forscher führten an zwei Gruppen der Ariaal, einem Volk aus dem Norden Kenias, genetische Untersuchungen durch. Die eine Gruppe hält nach wie vor an ihrer traditionellen nomadischen Lebensweise fest, während die andere sesshaft geworden ist und begonnen hat, Getreide anzubauen. Eisenberg und sein Team befassten sich in ihren Erbgutanalysen ausschließlich mit dem DRD4-Gen. Dieses Gen enthält die Bauanleitung für diejenigen Rezeptoren im Gehirn, die auf den Botenstoff Dopamin reagieren.
Dieses Gen spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulierung des Hungergefühls. Es wird außerdem mit Eigenschaften wie Impulsivität, Ruhelosigkeit und Neugierde sowie mit suchtartigen Verhaltensweisen und dem an Belohnung orientierten Lernverhalten in Verbindung gebracht. Von den dutzenden von Varianten, in denen das DRD4-Gen vorkommen kann, ist eine - das 7R-Allel - seit längerem dafür bekannt, das Auftreten von ADHS zu begünstigen. Man schätzt, dass ungefähr die Hälfte aller Kinder, die an ADHS leiden, Träger des 7R-Allels sind.
Als Eisenberg und sein Team die Genproben verglichen, stellten sie fest, dass die Genvariante 7R bei beiden Ariaal-Gruppen im Wesentlichen gleich häufig zu finden ist. Doch sowohl beim Body-Mass-Index (BMI) als auch bei der allgemeinen körperlichen Verfassung zeigten sich deutliche Unterschiede: Die nomadisch lebenden Ariaal mit dieser Genvariante waren im Durchschnitt erheblich besser ernährt und insgesamt gesünder als ihre sesshaften Verwandten ohne diese Veranlagung.
Eisenberg schließt daraus, dass es für Nomaden ausgesprochen nützlich sein kann, mit dem 7R-Allel ausgerüstet zu sein. "Es ist möglich", erklärt er, "dass ein Junge in einer nomadischen Umgebung dank dieses Allels besonders gut darin ist, das Vieh gegen Überfälle zu verteidigen oder Nahrung und Wasserquellen ausfindig zu machen. Dieselben Fähigkeiten dürften allerdings nicht zuträglich sein, wenn es um dauerhafte Beschäftigungen geht: sich in der Schule zu konzentrieren, Landwirtschaft zu treiben oder mit Gütern zu handeln."
Bisher weiß man noch relativ wenig darüber, wie es sich auf Erwachsene auswirkt, wenn sie in ihrer Kindheit ADHS-Patienten gewesen sind. Um der Sache auf den Grund zu kommen, haben der Mediziner William Barbaresi und seine Kollegen von der Harvard Medical School in Boston kürzlich eine aufwendige Langzeitstudie durchgeführt. Dabei konnten 232 frühere ADHS-Patienten als Erwachsene erneut medizinisch untersucht werden. Die Forscher berichteten darüber jüngst in der Fachzeitschrift "Pediatrics".
Chronisch wie Diabetes
Das bestürzende Resultat: Nur 37,5 Prozent der erneut Befragten waren frei von ADHS, bei 29 Prozent von ihnen wurde wieder ADHS festgestellt, und die meisten aus dieser Gruppe litten zudem an zumindest einer weiteren psychischen Störung. 57 Prozent der 232 früheren ADHS-Patienten wurden als Erwachsene von irrationalen Ängsten oder Depressionen gequält, litten an antisozialen Persönlichkeitsstörungen, durchlebten oft manische Phasen oder waren drogenabhängig, und zehn von ihnen saßen zum Zeitpunkt der Befragung hinter Gittern.
Für Barbaresi und seine Mitarbeiter sprechen diese Befunde dafür, dass ADHS unbedingt über die Pubertät hinaus behandelt gehört und die herkömmlichen Methoden gründlich zu überprüfen sind. "Wir müssen", sagt Barbaresi, "ADHS künftig als eine chronische Krankheit betrachten, ähnlich wie Diabetes."