Hörende mit Hörgeschädigten in Integrationsgruppe. | Österreichs einzige Kindergärtnerin mit Gebärdensprache als Muttersprache. | Hörende lernen soziales Verständnis. | Wien. Auffallend still ist es, wenn man den Städtischen Kindergarten in der Gussenbauergasse in Wien-Alsergrund betritt. Und dennoch ist eine rege Kommunikation im Gange. In einer gemütlichen Sitzecke etwa liest gerade eine Pädagogin ein spannendes Bilderbuch vor. Die vier Zuhörer hängen an ihren Lippen - und verfolgen gebannt die Gestik ihrer Arme. Ist doch während des Vorlesens kein einziger Laut zu hören und der Text des Buches nur für all jene verständlich, die die Gebärdensprache sprechen.
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Dass die Kinder diese erlernen, ist das Hauptziel des kostenlosen Ganztags-Kindergartens. Daher zählt Karin Lang, österreichweit die einzige Kindergartenpädagogin mit Gebärdensprache als Muttersprache ("Native Signerin"), zu seinen Mitarbeitern. Die selbst schwer Hörgeschädigte kam vor zwei Jahren zum Kindergarten, der seit 2002 schwerhörige Kinder mitbetreut. Im Jahr 2008 startete er mit diesem Konzept voll durch, wie Leiterin Gabriele Koppensteiner der "Wiener Zeitung" erzählt. Nun beherrschen hier alle Pädagoginnen und Assistentinnen die Gebärdensprache.
Derzeit werden zwei Integrationsgruppen mit je 20 Kindern geführt, wobei sich in jeder Gruppe sechs Hörgeschädigte unter die Hörenden mischen. Letztere haben zum Teil gehörlose Eltern. Dieses Konzept der Integrationsgruppe wird heuer erstmals in einer Wiener Schule weitergeführt. Und zwar im Sonderpädagogischen Zentrum (SPZ) in der Zinckgasse in Rudolfsheim-Fünfhaus, wo drei hörbeeinträchtigte mit sechs hörenden Kindern auch in der Gebärdensprache nach dem normalen Lehrplan unterrichtet werden. Eine der zwei Lehrerinnen ist ebenfalls eine "Native Signerin". Die Klasse des SPZ, das bisher ausschließlich Integrationsklassen mit sehbehinderten Kindern führte, soll laut Klassenvorstand Maria Flor-Renner jährlich aufgestockt und somit zur Mehrstufenklasse werden.
Lautsprache erlernen
Ein Pilotprojekt in Sachen bilinguales Schulsystem - standen doch bisher lediglich das Bundesinstitut für Gehörlosenbildung (Big) mit einer Sonderschule für schwerhörige Kinder in Hietzing und die Schwerhörigenschule in der Donaustadt zur Wahl. In Österreich leben etwa 450.000 hörgeschädigte Menschen, 9000 davon sind gehörlos.
"Der Unterricht mit Hörenden stellt einen wesentlichen Schritt in Richtung Integration dar", so Flor-Renner. Die drei hörgeschädigten Kinder ihrer Klasse wechselten vom Kindergarten in der Gussenbauergasse in das Pilotprojekt. "Bei uns steht ebenfalls der ganz normale Kindergartenbetrieb im Vordergrund, bei dem alle Kinder gleichgestellt sind", pflichtet ihr Koppensteiner bei. Jeder werde mit seinen Stärken und Schwächen als Persönlichkeit wahrgenommen.
Denn nicht nur die Hörgeschädigten sollen in den vier Jahren Kindergarten lernen, sich lautsprachlich mitzuteilen - auch die Hörenden profitieren von dieser Zeit. Patrick aus der "großen Gruppe" etwa ist selbst nicht schwerhörig. Den Umgang mit dem Hörgerät beherrscht er allerdings perfekt. "Ich helfe den Kleineren manchmal nach dem Schlafen, es wieder einzusetzen", erzählt er, während er aus Bausteinen ein Schiff modelliert. Auch beim Putzen gehe er ihnen oft zur Hand.
Sein Schiff ist halb fertig, als eine Pädagogin zum Wegräumen aufruft - es ist Mittagszeit. Patricks Freund, der sich als Flugzeugkonstrukteur übt, hat die Aufforderung nicht gehört. Wie selbstverständlich stößt ihn Patrick sanft an - nun ist ihm sofort klar, dass Zeit zum Wegräumen ist.
"Die Hörenden lernen, Rücksicht zu nehmen, und das soziale Verständnis für andere", resümiert Koppensteiner. Und natürlich die Österreichische Gebärdensprache, die allerdings erst seit 2005 als offizielle Sprache anerkannt ist und für die es bisher keine weiterführenden Kurse nach dem Kindergarten gab. Heuer bietet der Verein zur Förderung der Österreichischen Gebärdensprache bei Kindern erstmalig Kurse für Vier- bis Zehnjährige an.
Der Pädagogin Lang blieb dieses Angebot verwehrt. "Schon mit zwölf wollte ich Kindergärtnerin werden, merkte aber schnell, dass man als Gehörlose zahlreiche Mauern zu durchbrechen hat", schildert sie. Die größte Blockade stellte für sie die Sprache dar. Erst mit acht Jahren hatte sie die Möglichkeit, die Gebärdensprache zu erlernen, wodurch sich "eine neue Welt auftat." Nach der Matura absolvierte Lang, die im Gespräch mit anderen von den Lippen abliest, die Ausbildung zur Kinderpädagogin.
"Ihr Lebensweg macht Kindern und Eltern Mut", meint Koppensteiner, "weil er zeigt, dass man auch als Hörgeschädigter die Chance hat, einen attraktiven Beruf zu ergreifen." Die fünfjährige Valentina scheint jedenfalls Fotografin werden zu wollen. Der leuchtende Digitalbildschirm der Kamera zieht sie nämlich schon jetzt voll in seinen Bann.