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Mehr als Wadenwickel und Kräutertee

Von Astrid Fadler

Wissen

Die traditionelle europäische Medizin (TEM) bietet vielleicht weniger Exotik als die TCM, ist aber auch altbewährt. Mit neuen Fortbildungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen soll traditionelles Wissen auch in Österreich wiederbelebt werden.


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Ameisensaft gegen Rheuma, Honig zur Wundheilung und Hühnersuppe bei Erkältungen - uralte Hausmittel, die auf den ersten Blick vielleicht etwas skurril anmuten, doch längst wissenschaftlich bestätigt sind.

© © PhotoSG - Fotolia

Während unsere Ur-Ahnen die heilsame Wirkung eines längeren Aufenthalts auf einem Ameisenhügel eher damit erklärt haben, dass die Kraft der Ameisen, die bis zum 40-Fachen ihres Körpergewichts tragen können, auf magische Weise auf den Rheuma-Kranken überging, weiß man heute um die Benefits der Ameisensäure. Auch die antibiotischen Eigenschaften von Honig und die schleimhautabschwellende Wirkung von Hühnersuppe sind längst wissenschaftlich bestätigt.

In der traditionellen Heilkunde geht man nach wie vor davon aus, dass die Natur gegen jede Art von Beschwerden oder Krankheiten ein Heilmittel zu bieten hat. Dabei beschränkt man sich keineswegs auf die Pflanzenwelt (Phytotherapie), auch Tiere, Tierprodukte und Mineralien werden auf vielfältige Art und Weise genutzt, außerdem manuelle Therapien (Massage) sowie Bewegungstherapie.

Nicht wenige der Methoden und Theorien stammen aus der Antike, sind nach wie vor aktuell - und weltweit verbreitet. Denn TCM, Ayruveda und TEM haben viele Ähnlichkeiten: die Elemente- oder Typenlehre, die zentrale Bedeutung von Ernährung und Lebensführung, Aderlass, Schröpfen, Einläufe etc. (Lotusblüten-)Honig gilt im Ayurveda als bewährtes Antiseptikum, Ameisen wurden und werden weltweit gegen Rheuma, aber auch zur Behandlung von Geschwüren und Wunden eingesetzt. Im Übrigen wird die bei uns hauptsächlich durch die TCM bekannte Puls- und Zungendiagnostik auch in der traditionellen europäischen Medizin angewandt. Noch im vorigen Jahrhundert wurde Pulsdiagnostik an den heimischen Universitäten gelehrt. Und es gab Listen, wie warm, kalt oder feucht die verschiedenen Pflanzen wirkten. Auf Basis der Elemente- und Temperamente-Lehre entstanden auch spezielle Ernährungsempfehlungen (Vier-Temperamente-Küche). Nicht zuletzt besteht das verbindende Element aller traditionellen Heilmethoden vor allem darin, dass das Lebewesen im Mittelpunkt steht, also die ganze Pflanze, der ganze Mensch und nicht nur einzelne Teile oder Organe. Diese Einheit umfasst auch die seelischen Aspekte.

Gemmotherapie & Co

Auch komplexe Zubereitungen (z. B. Alchymie, Spagyrik), für welche die verschiedenen Heilmittel durch Veraschen, Auslaugen, Kristallisieren etc. verändert werden, wurden im Laufe der Zeit weltweit in allen traditionellen Heilmethoden entwickelt. Aus Pflanzen isolierte Reinsubstanzen (Atropin, Menthol etc.) zählen allerdings nicht zur TEM bzw. zur Pflanzenheilkunde.

Eine spezielle, in Österreich noch eher unbekannte Methode der TEM ist die Gemmotherapie, bei der ausschließlich junge Pflanzenteile wie Triebsprossen, Wurzelspitzen und Knospen verwendet werden. Als offizieller Begründer der Gemmotherapie gilt der belgische Arzt und Biologe Henri Pol (1918-1988).

Er verhalf der Methode in Frankreich zu so großer Bekanntheit, dass die Knospenmittel mittlerweile in mehreren europäischen Arzneibüchern verzeichnet sind.

Wer bei Gemmotherapie zuerst an Steine denkt, liegt nicht ganz falsch: Gemma bedeutet auch Edelstein. So bezeichnete man im alten Rom beispielsweise jenen Edelstein, der ähnlich wie eine Knospe am Handgriff eines Schwertes saß. Die Lebens- und Wachstumskräfte einer Pflanze sind im Embryonalgewebe am größten. Knospen, junge Triebe und Wurzeln sind reich an Wachstums- und Vermehrungsfaktoren, Hormonen usw. Die teilungsaktiven Zellverbände enthalten das gesamte genetische Programm der Pflanze. Auxine beispielsweise sind pflanzliche Hormone, die das Wachstum der Sprossen fördern, aber auch bei der Abwehr von Pilzen, Bakterien und Viren eine Rolle spielen. "Außerdem enthalten Knospen & Co. - im Gegensatz zu den meisten reifen Pflanzen und Früchten - verhältnismäßig viele Proteine. So können Gemmotherapeutika zellulär, also direkt in den Zellen unseres Körpers wirken. Heilimpulse sind auf diese Weise sehr schnell möglich", erzählt Helmut Olesko, Pionier der traditionellen europäischen Medizin und im Besonderen der Gemmotherapie. Er ist auch Mitbegründer der TEM-Akademie in Oberösterreich, wo seit April 2008 Ärzte, Apotheker und Therapeuten im Rahmen einer dreijährigen berufsbegleitenden Fortbildung entsprechend geschult werden. "Ein oder zwei Wochenendkurse reichen nicht aus, um TEM zu erlernen", so Olesko. "Das gilt auch für Ärzte, denn an den Universitäten wird dieses Wissen leider nicht mehr gelehrt."

Diagnose schlaffer Magen

Der Allgemeinmediziner Josef Hutter-Klein, Mitarbeiter im TEM-Qualitätszirkel des Kneipp-Traditionshauses Bad Kreuzen, beschäftigt sich seit 13 Jahren intensiv mit Naturheilkunde: "Auch abseits der Schulmedizin bedeutet Wirkung immer mögliche Nebenwirkung. Man muss bei jedem Patienten individuell entscheiden, welche Therapieformen und Heilmittel am besten geeignet sind." Exemplarisch der Fall eines 42-jährigen Patienten, der schon seit fünf Jahren an einer chronischen Gastritis mit Sodbrennen und saurem Aufstoßen litt. Er wollte die magenschützenden Medikamente, die ihm unter anderen nach einer Gastroskopie verordnet wurden, endlich absetzen. "Die Ursache für die Beschwerden war ein kalter, schlaffer Magen. Die Behandlung mit Kalmuswurzel-Urtinktur konnte nach drei Monaten mit Erfolg beendet werden." Und das, obwohl der Patient anfangs leichte Magenschmerzen hatte. Diese waren ein Zeichen für die Kontraktionen (= Tonuserhöhung) des Magens, was bei dieser Behandlung durchaus normal und kein Grund ist, die Therapie abzubrechen. Der Patient behandelte die vorübergehenden Schmerzen mit Heilerde, ein altbewährtes Mittel der Naturmedizin - das allerdings bei Menschen mit zu wenig Magensäure Blähungen verursachen kann.

Nacktschnecken für den Magen

Etwas weiter westlich, im Pinzgau entstand - ebenfalls durch persönlichen Einsatz einiger besonders engagierter Menschen - ein weiteres Projekt, das sogar von der Unesco gewürdigt wurde. Es begann 2005 mit einer umfangreichen Datensammlung und Befragungen der Saalachtaler Bevölkerung im Rahmen eines EU-Projekts "Traditionelle Europäische Heilkunde". 2007 wurde der gemeinnützige TEH-Verein gegründet und die TEH-Akademie entstand. In rund 100 Unterrichtseinheiten kann man sich hier (in Kooperation mit dem Wifi-Salzburg) zum zertifizierten TEH-Praktiker ausbilden lassen.

Die Pulsdiagnose gibt es auch in der traditionellen europäischen Medizin.
© © Ralf Schultheiss/Corbis

"Zielgruppe sind etwa Masseure und Physiotherapeuten, die beispielsweise ihre Öle selbst herstellen möchten, aber auch interessierte Ärzte und Ärztinnen oder Ernährungswissenschafter", erklärt Geschäftsführerin Karin Buchart. "Die Wirksamkeit unserer mehr als 100 lokal verfügbaren Heilmittel ist seit Jahrhunderten überliefert, darunter sind auch 50 wissenschaftlich anerkannte traditionelle Heilpflanzen." Der Verein verkauft (auch online) seit einiger Zeit eigene Produkte, bietet außerdem Urlaube auf Partner-Bauernhöfen, Info-Veranstaltungen und Führungen an.

Im Jahr 2010 wurde das vom TEH-Verein gesammelte und vermittelte Heilwissen der Pinzgauer in das nationale Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der österreichischen Unesco-Kommission aufgenommen.

Bereits 1999 beschäftigte man sich in Tirol im Rahmen eines EU-Interreg-II-Projekts mit der "Volksmedizin in Tirol". In 150 Interviews mit meist älteren Personen stellte sich heraus, dass die Erinnerung an die sogenannte "Dreckapotheke" noch sehr lebendig ist. Kuhmist, Urin, Speichel, Aufenthalte im Stall, die Verwendung möglichst schmutziger Socken usw. fanden vielfältige Anwendung. Darüber hinaus wurden Tiere und deren Produkt auf heute ungewöhnliche Weise eingesetzt, so zum Beispiel wurden Nacktschnecken bei Magenproblemen verschluckt. Heute wären die Ergebnisse vermutlich ganz anders, denn - laut einer 2009 in drei Bundesländern durchgeführte Umfrage des Dokumentationszentrums für traditionelle und komplementäre Heilmethoden in Österreich - ist der Gebrauch von so genannten Hausmitteln seit den 1970er Jahren stark zurückgegangen.

Abschließend ein aktueller Blick Richtung EU. Anfang 2010 entstand das länderübergreifende Forschungsnetzwerk CAMbrella, um das allgemeine Wissen über komplementäre und alternative Medizin (complementary and alternative medicine) zu erhöhen und herauszufinden, welche Therapiemethode für welche Krankheit am besten geeignet ist. 16 Zentren für komplementärmedizinische Forschung aus zwölf europäischen Ländern sollen innerhalb von drei Jahren die grundlegenden Fragen der Komplementärmedizin im europäischen Kontext aufzeigen. Österreich ist durch die Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin vertreten. Die Ergebnisse von CAMbrella werden Ende November in Brüssel veröffentlicht. Einer der ersten Schritte war die Erarbeitung einer einheitlichen Terminologie für diesen Bereich. Im Übrigen sind auch die Begriffe TEM oder TEH nicht präzise definiert, schon weil nicht eindeutig ist, wo eigentlich die Tradition endet und die Moderne beginnt.

Die Persönlichkeiten hinter der TEM

Schon vor Hippokrates hatten die Naturphilosophen ein eigenes medizinisches, von Magie und Religion losgelöstes Weltbild. Der 570 v. Chr. geborene Pythagoras etwa war sowohl als Mathematiker als auch als Mediziner angesehen. Er etablierte die Lehre der vier Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft), die man nicht nur in der Natur, sondern auch im Körper findet. Rund 100 Jahre später war der auf der Insel Kos geborene Hippokrates der Erste, der die Untersuchung der Patienten und das Gespräch mit diesen in den Mittelpunkt stellte. Neben Arzneien pflanzlichen, tierischen und mineralischen Ursprungs verwendete er vor allem den Aderlass sowie die Reinigung durch Brech- und Abführmittel als Therapie. Er ordnete den vier Elementen die Qualitäten heiß, kalt, trocken und feucht sowie die Körpersäfte Blut, Schleim/Lymphe, gelbe und schwarze Galle zu.

Galenus von Pergamon (130-199 n. Chr.), u.a. Leibarzt von Kaiser Marc Aurel, war Anhänger der Säftelehre (Humoralpathologie) von Hippokrates, nach der Gesundheit der Ausgleich zwischen den vier Körpersäften ist. Auf dieser Basis entwickelte er die Temperamentelehre (Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker, Melancholiker). Von Galen sind über 300 Schriften aus allen Bereichen der Heilkunde bekannt. Die Lehre von der Zubereitung der Arzneimittel (Galenik) ist nach ihm benannt.

Paracelsus (1493-1541) kritisierte die Viersäftelehre heftig, er führte Krankheiten auf ein Ungleichgewicht zwischen den Grundstoffen Schwefel, Quecksilber und Salz zurück. Er forderte geschlechterspezifische Arzneien - eine Idee, die sich heute in der Gendermedizin wiederfindet.

Im Mittelalter listete der 980 im heutigen Usbekistan geborene Universalgelehrte Avicenna in seinem Kanon der Medizin sämtliche damals bekannten Krankheiten auf. Der Canon wurde ins Lateinische übersetzt und danach eines der wichtigsten medizinischen Werke, das an manchen Universitäten bis ins 17. Jahrhundert verwendet wurde.

© © ASO FUJITA/amanaimagesRF/amanaimages/Corbis

Die "Mönchsmedizin" des Mittelalters hingegen war mehr am Konzept der gesunden Lebensführung orientiert und weniger wissenschaftlich-theoretisch angelegt. Um 1200 wurde die ärztliche Betätigung inklusive chirurgische Eingriffe durch Geistliche und Mönche verboten. Davor erlebte die Klostermedizin durch Hildegard von Bingen (1098-1179), die schon zu Lebzeiten fast wie eine Heilige verehrt wurde, ihren Höhepunkt. Ähnlich wie Hippokrates oder Paracelsus war sie ein sehr kritischer Geist und scheute nicht davor zurück, Autoritätspersonen ihre Meinung zu sagen. In ihrer Schriftensammlung "Physika" beschrieb sie die Heilkräfte zahlreicher Pflanzen, Mineralien und Tiere.

1886 veröffentliche Pfarrer Sebastian Kneipp sein Buch "Meine Wasserkur" und wurde fast schlagartig berühmt, seine Patienten mussten in Massenquartieren untergebracht werden. Kneipp, religiös und nicht sozialreformerisch motiviert, wurde von vielen damaligen Naturheilkundlern scharf kritisiert. Dieser suchte gezielt die Zusammenarbeit mit Ärzten, die wiederum von puristischen Verfechtern der Naturheilkunde als "Giftmischer" tituliert wurden.

Rudolf Steiner (1861-1925) entwickelte die Anthroposophie als Erweiterung der evidenzbasierten Medizin. Mit seinen Theorien beeinflusste er unter anderem auch die Pädagogik (Waldorfschulen) und die Landwirtschaft. Die Volksmedizin bzw. die traditionelle Heilkunde ging in Europa lange Zeit mit heidnischen Bräuchen und Beschwörungen Hand in Hand. Aus diesem Grund wurde sie mit dem Aufkommen der Schulmedizin von Ärzten und anderen Gelehrten gezielt verdrängt, während etwa in China die traditionelle Medizin sogar (auch aus Kostengründen) von Mao gefördert wurde.

Artikel erschienen am 5. Oktober 2012 in "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal", S. 16-19