Politologe Filzmaier rät zu massiven Investitionen in Politische Bildung. "Diese hat dort zu sein, wo es wehtut."
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Wien. Ein achtjähriger Bub mit einer Kippa auf dem Kopf wurde am Montagabend in Sarcelles im nördlichen Umland von Paris von zwei Jugendlichen angegriffen. Die Jugendlichen haben dem jüdischen Buben ein Bein gestellt und ihn getreten. Die Ermittler vermuten ein antisemitisches Motiv, wie das Innenministerium mitteilte. "Jedes Mal, wenn ein Bürger wegen seines Alters, seines Aussehens oder seiner Religion angegriffen wird, greift man die ganze Republik an", sagte Präsident Emmanuel Macron in der Nacht auf Mittwoch auf Twitter. In Frankreich gehen die Angriffe auf Synagogen zwar zurück - weil diese vom Militär bewacht werden -, andererseits hat die Grande Nation ein ganz besonderes Problem, wie man spätestens seit dem Attentat auf die Karikaturisten der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" am 7. Jänner 2015 weiß.
Dass aber auch Österreich kein geringes Antisemitismus-Problem hat, zeigt die derzeitige Debatte rund um das widerwärtige Liedgut der Burschenschaft Germania. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) berichtet der "Wiener Zeitung" zudem von einem Fall, wo jüdische Schulkinder von einem Mann aufgefordert worden sind, den Bus bei der nächsten Station zu verlassen: "Wenn ihr nicht aussteigt’s, schicke ich euch ins Konzentrationslager", soll er gesagt haben. Juden würden sehr oft auf der Straße angefeindet, heißt es aus der IKG. Das betreffe vor allem Juden, die ihren Glauben sichtbar machen. Aber es gebe wenige physische Übergriffe.
Rund 1,5 Millionenlatent antisemitisch
Politikwissenschafter Peter Filzmaier, der selbst schon einige Studien zu dem Thema verfasst hat, ortet zwei Arten von Antisemitismus in Österreich: den manifesten und den latenten. Der manifeste Antisemitismus liege im einstelligen Prozentbereich. Das sind aber immerhin 200.000 der 6,4 Millionen Wahlberechtigten. Aber die Gruppe derjenigen, die Juden bestimmte Fähigkeiten zuordnen oder ihnen mit Vorurteilen begegnen, mache immerhin 20 bis 25 Prozent der Wahlberechtigten aus - also rund 1,5 Millionen.
Das "Forum gegen Antisemitismus" hat im Jahr 2016 insgesamt 477 antisemitische Vorfälle in Österreich registriert. Die Mehrzahl, nämlich 59 Prozent der Vorfälle, ist keinem ideologischen Background zuzuordnen. 28 Prozent konnten rechtsextremen Tätern zugeordnet werden. Der Antisemitismusbericht für 2017 wird am 15. Februar veröffentlicht. Die Zahlen lagen noch nicht vor.
Filzmaier ortet ein gravierendes Versäumnis der Politik. "Wir haben hier ein unglaubliches Defizit an politischer Bildung." Vor allem, wenn man bedenke, dass es in Wien - wo ja fast alle Juden Österreichs leben - geschätzt 12.000 bis 25.000 Juden gibt.
Dass Politische Bildung als Unterrichtsprinzip geführt wird und kein eigenes Fach ist, sei zwar in der Theorie gut, es gehe aber unter, weil es 14 Unterrichtsprinzipien - wie Verkehrs-, Gesundheits- oder Umwelterziehung - gibt. Man müsste den Mut haben, sich auf drei Kernprinzipien zu konzentrieren, und zusätzlich ein eigenständiges Fach einführen. Noch besser wäre ein Fach Politische Bildung und Mediendemokratie.
Vor allem fordert Filzmaier aber, dass mehr Geld für Politische Bildung zur Verfügung sein muss. In Deutschland gebe man dafür sehr viel mehr Geld aus, habe aber in den vergangenen Jahren die Mittel zurückgefahren. Natürlich sei das nicht der einzige Grund für das Erstarken der AfD, aber eben ein Baustein, sagt Filzmaier.
In Österreich müsse man mit Politischer Bildung vor allem dort aktiv werden, "wo es wehtut". Also in Jugendgefängnissen oder auch bei Jugendlichen auf der Straße. Dafür müssten Streetworker geschult werden. Es gehe darum, die Twens zu erreichen, junge Männer, die nicht in der Schule sind. Er sieht hier auch die Sozialpartner gefragt, denn Lehrlinge erreiche die Schule nicht mehr. "Das Gedenkjahr 2018 ist dafür schon extrem spät, aber besser jetzt, als nie", sagt Filzmaier.
Der Professor für Politikwissenschaft sieht aber steigenden Antisemitismus bei Menschen muslimischen Glaubens. Nach einer Studie vom Vorjahr stimmten der Aussage, dass Juden zu viel Macht haben, vor allem die Syrer "sehr" oder "eher" (insgesamt 62 Prozent) zu. Iraner nur zu 18 Prozent. Allerdings sei der Antisemitismus bei Menschen anderen Glaubens ähnlich hoch.
Großes Problem: islamischer Antisemitismus
"Die "unmittelbarste Gefahr für Jüdinnen und Juden geht im Moment vom muslimischen Antisemitismus aus", sagte Oskar Deutsch, Präsident der IKG. Auch in Wien sei bei einer Demonstration "Schlachtet die Juden" und "Tod Israel" auf Arabisch und Persisch gerufen worden.
Erst am Donnerstag sei es an einer Wiener Schule zwar nicht zu physischer Gewalt, aber zu einer Drohung gekommen: Auf den Tisch eines elfjährigen jüdischen Schülers sei "Death to all jews" gekritzelt worden - wobei der ideologische Background unklar sei, berichtet die IKG.
Deutsch ortet "eine Art mainstream-fähigen Antisemitismus in muslimischen Communities".
Scharf geht der IKG-Präsident aber mit der FPÖ ins Gericht: "Die rechtsextreme Bedrohung ist angesichts der jüngsten Vorfälle nicht von der Hand zu weisen. Die Neonazis sind nicht ausgestorben, viele tragen eine Maske. Die Parteiführung der FPÖ distanziert sich in Sonntagsreden vom Antisemitismus. Gegen den Antisemitismus in den eigenen Reihen geht sie aber nicht vor. Im Gegenteil: Die FPÖ unterstützt die rechtsextreme Zeitung ,Aula‘, in der zuletzt Überlebende des KZ Mauthausen als ,Landplage‘ und ,kriminell‘ diffamiert wurden. In den deutschnationalen Burschenschaften werden antisemitische Lieder gesungen - und in der Regel kriegt das niemand mit, weil sie das in ihren Buden tun."
In Deutschland hat der Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen die Einsetzung eines Antisemitismus-Beauftragten beschlossen. Die AfD war naturgemäß dagegen.
Filzmaier für, IKG gegen Antisemitismusbeauftragten
Regierungssprecher Peter Launsky-Tieffenthal verwies gegenüber der "Wiener Zeitung" darauf, dass sowohl Kanzler als auch Vizekanzler die antisemitischen Vorgänge auf das Schärfste verurteilt hätten und es auch politische Konsequenzen gebe. Politologe Filzmaier jedenfalls hielte einen Antisemitismusbeauftragten für "unbedingt sinnvoll". Aber eben nur, wenn dieser mit ausreichend Mittel ausgestattet wäre - sodass die Politische Bildung kein leeres Wort mehr wäre.
Der Präsident der IKG hält dagegen wenig von einem Antisemitismus-Beauftragten in Österreich. "Für Deutschland mag das sinnvoll sein. Das will ich nicht beurteilen. In Österreich sollte jeder Politiker Antisemitismusbeauftragter sein. Kein Politiker sollte sich abputzen können - im Gegenteil sollte jeder in seinem Bereich rassistisches Gedankengut bekämpfen."