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Mehr Europa, aber kein Einheitsbrei

Von Walter Hämmerle

Politik

Über die Probleme einer europäischen Demokratie, den Föderalismus und Stronach.


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"Wiener Zeitung": Die Finanzkrise stellt die Frage nach der Rolle der Nationalstaaten in Europa mit neuer Dringlichkeit. Manche, etwa der Schriftsteller Robert Menasse, betrachten den Nationalstaat als historisch überholtes Modell und würden lieber heute als morgen diesen durch ein vereinigtes Europa ersetzen. Als Bundespräsident sind Sie das Staatsoberhaupt der Republik Österreich. Welche Rolle werden die Nationen künftig spielen?

Österreich wird bleiben - hoffentlich nicht nur als Rest: Bundespräsident Heinz Fischer.
© Urban

Heinz Fischer: Ich plädiere für ein integriertes, aber kein uniformiertes Europa. Diejenigen, die glauben, die Zukunft der Europäischen Union werde jenem Modell entsprechen, dass die USA heute verkörpern, unterschätzen die Kraft des Pluralismus, der aus der historisch gewachsenen sprachlichen, kulturellen und sozialen Vielfalt Europas entspringt. Gleichzeitig muss die EU - und ich befürworte das sehr - überall dort ihre Energien bündeln und zusammenarbeiten, wo es um die Sicherung unserer Position im weltweiten Wettbewerb geht. Beides zusammen, die Bewahrung der gewachsenen Vielfalt und verstärkte Zusammenarbeit, scheint mir der Weg für die Zukunft Europas zu sein, auf dem man die Bevölkerung mitnehmen kann - auch jene, die sich vor einem "europäischen Einheitsbrei" fürchten. Österreich wird nicht von der Landkarte und aus der Geschichte Europas verschwinden, davon bin ich überzeugt.

Sprache und Kultur sind weiche Faktoren. Wie viel Europa soll es in politischen Kernbereichen geben?

Nachdem man mit der Einführung des Euro einen aus meiner Sicht richtigen Schritt in einen gemeinsamen Währungsraum gesetzt hat, ist eine verstärkte wirtschaftliche Koordination unerlässlich, das gebietet schon die Logik: Währungs- und Wirtschaftspolitik hängen zusammen. Auch die Abstimmung in der europäischen Außenpolitik müsste noch sehr viel stärker erfolgen. Es wäre sehr erstrebenswert, dass man auf Situationen und Gefahren, wie sie jetzt etwa von islamistischen Fundamentalisten in Nordafrika ausgehen, gemeinsam antwortet und reagiert. Die verstärkte Integration in diesen Kernbereichen und die Aufrechterhaltung unserer jahrhundertealten pluralistischen Tradition ist mein Wunschtraum für Europas Zukunft.

Und eine europäische Harmonisierung bei Steuern, Pensionen?

Das Steuersystem ist zweifellos ein zentraler Bereich der Wirtschaftspolitik, wo eine schrittweise Anpassung notwendig ist; das geschieht bereits, etwa mit der geplanten Einführung einer Transaktionssteuer in einer Mehrheit der Euro-Staaten. Wann und in welchem Tempo bei den Sozialsystemen eine Angleichung möglich sein wird, wage ich nicht vorherzusagen. Momentan ist die Zeit sicher nicht reif, die Pensionssysteme in Europa zu harmonisieren.

Glauben Sie, dass geografische Räume zu groß sein können, um das Gefühl demokratischer Repräsentation bei den Bürgern aufrechtzuerhalten? Irgendwann stellt sich fast immer das Gefühl ein, dass "die da oben", sei es in Washington, Moskau oder Brüssel, sich nicht um die Sorgen der einfachen Bürger kümmern.

Auf jeden Fall bin ich ein vehementer Anhänger demokratischer Mitbestimmung im Kleinen, im Rahmen der Gemeinden oder von Regionen, weil hier die Menschen über ihre ureigenste Lebensumwelt entscheiden können. Andererseits glaube ich, dass man nach oben hin keine quantitativen Grenzen setzen kann. Indien ist mit über einer Milliarde Einwohner die größte Demokratie der Erde. Größe allein ist nicht das Problem. Die europäische Demokratie, auf die Ihre Frage anspielt, hat es nicht deshalb schwer, sehr schwer sogar, weil 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger womöglich zu viel sind, sondern weil die vielen Sprachen verhindern, dass die politische Debatten, sagen wir in Frankreich oder Deutschland, auch von den Menschen in Polen oder Finnland wahrgenommen werden können. Sie erschweren gesamteuropäische Debatten, die für eine gesamteuropäische Demokratie wichtig sind. Hier und in der Vielfalt der nationalen Diskurse liegt die größte Hürde für die europäische Demokratie. Das macht auch den großen Unterschied zu den USA aus. Immerhin gibt es Fortschritte, etwa durch die zunehmende Verbreitung des Englischen oder neue Technologien. Jedenfalls sollte das aber kein Hindernis sein, etwa bei EU-Wahlen europaweit zu entscheiden, wer der nächste Präsident der Union sein soll.

Das Spiegelbild dieser Debatte Nationen-Europa ist die Auseinandersetzung über den Föderalismus. Die meisten Bundespolitiker und Experter möchten die Länder an die kurze Leine legen, während die Landeshauptleute mehr Kompetenzen fordern.

Es geht nicht um kurze oder lange Leine. Die Länder haben bei der Geschichtswerdung Österreichs eine zentrale Rolle gespielt, die teils bis ins Mittelalter zurückreicht; das gilt auch für die Gründung der Republik 1918/19; und auch für die Identität vieler Bürger sind die Länder wichtig, das anerkenne ich. Wir müssen jedoch das Zusammenwirken der Länder mit dem Bund in optimaler Weise organisieren. Das gilt vor allem, wie sich ja in allerletzter Zeit herausgestellt hat, für die Finanzgebarung der Länder, die nicht mehr den modernen Anforderungen eines öffentlichen Finanzwesens entspricht; hier bedarf es dringender Reformen. Es braucht eindeutig mehr Kontrolle und mehr einheitliche Regelungen. Darüber hinaus verstehe ich bis heute nicht, warum nördlich des Semmerings ein anderer Jugendschutz besteht als südlich davon. Der Föderalismus darf nicht zur Heiligen Kuh werden, an der nichts geändert werden kann.

Als Kernübel gilt die fehlende Verantwortung für Einnahmen, dadurch betrachten sich manche Länder nur als Geldverteilungsstellen. Können Sie sich partielle Steuerautonomie vorstellen?

Der Gedanke, dass derjenige, der das Geld ausgibt, auch für das Einheben verantwortlich ist, hat einiges für sich. Die Schweiz praktiziert dieses System. Ich sehe auch in Österreich bei manchen Bundespolitikern durchaus Bereitschaft, darüber nachzudenken. Dagegen spricht, dass eine solche Steuerautonomie wohl anfällig für populistische Forderungen nach Steuersenkungen ist, wodurch die Finanzierung wichtiger öffentlicher Ausgaben gefährdet werden könnte. Ich lehne die Idee nicht a priori ab und betrachte das auch nicht als eine Grundsatzfrage, sondern als ein Optimierungsproblem.

Haben Sie bereits schlaflose Nächte, wenn Sie an die Regierungsbildung nach den Wahlen im Herbst denken? Zu befürchten ist, dass SPÖ und ÖVP nicht mehr über eine Mehrheit verfügen und für eine Koalition zumindest drei Parteien notwendig sein werden.

Für schlaflose Nächte sind die Wahlen noch zu weit entfernt. Wie diese schlussendlich ausgehen, bleibt abzuwarten. Sicher scheint, dass keine Partei eine absolute Mehrheit erreichen wird. Davon abgesehen ist alles andere offen, etwa mögliche Zweierkoalitionen oder die Dynamik des Wahlkampfs, wo mögliche Bündnisse angesagt oder ausgeschlossen werden. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Parteien tatsächlich antreten.

Sind alle im Nationalrat vertretenen Parteien aus Ihrer Sicht grundsätzlich regierungsfähig?

Die Verfassung stellt auf die einzelnen Abgeordneten ab; deshalb hat auch jeder Abgeordneter gleiche Rechte und Pflichten und trägt das gleiche Maß an Verantwortung.

Was sagt es über die Qualität der heimischen Parteiendemokratie aus, wenn ein politischer Newcomer wie Frank Stronach aus dem Stand plötzlich - laut Umfragen zumindest - auf acht, zehn Prozent der Wählerstimmen kommt?

Erstens sind Umfragen noch keine Wahlresultate. Zweitens muss man fairerweise sagen, dass solche Entwicklungen auch in anderen reifen Demokratien vorkommen, dies also kein österreichisches Spezifikum darstellt. Denken Sie an Dänemark, Holland oder Finnland. Ich sehe das als Ausdruck abnehmender Parteibindungen und größerer Flexibilität der Wählerinnen und Wähler. Dadurch werden die Stammwähler weniger und starre Strukturen des politischen Systems aufgebrochen. Das ist natürlich ein Bruch mit einer Vergangenheit, als SPÖ und ÖVP gemeinsam oft über 90 Prozent der Wähler auf sich vereinigen konnten.

Ist diese Entwicklung positiv oder negativ?

Die Bürger sind flexibler, wählerischer, auch anspruchsvoller geworden. Aus der Perspektive von Flexibilität und Lebendigkeit der Politik ist das zu begrüßen. Es ist aber für sich allein kein Gradmesser der Demokratie.

Wie beurteilen Sie das Vorhaben der Bundesregierung, den Schutz des heimischen Wassers nun in die Verfassung zu schreiben?

Ich schicke voraus, dass ich entschieden gegen jede Privatisierung im Bereich des heimischen Trinkwassers bin. Vom juristischen Standpunkt ist zu sagen, dass Österreich nicht zu wenig, sondern zu viele Verfassungsbestimmungen hat und man daher mit größter Sorgfalt prüfen muss, wann und wo man die Verfassung als Instrument zur Beschwichtigung von Ängsten der Bevölkerung einsetzt.