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Mehr Lehrstellen sind keine Lösung

Von Stefan Melichar

Wirtschaft

Ein Lehrabschluss ist für Spezialisten-Jobs oft nicht genug. | Ausbildung über "mittlere Qualifikation" hinaus gefragt. | Wien. Kann dem viel beklagten Facharbeitermangel durch die vermehrte Ausbildung von Lehrlingen entgegengewirkt werden? Nicht unbedingt, wenn man Arbeitsmarkt-Expertin Gudrun Biffl vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) Glauben schenkt. Mit der zunehmenden Spezialisierung von Betrieben sei es oft gar nicht möglich, einen Lehrling entsprechend auszubilden und auf das nötige Qualifikationsniveau zu bringen, meint Biffl. Weiterbildung ist das Zauberwort.


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Immer mehr Klein- und Mittelbetriebe würden sich, so Biffl, spezialisieren, um im Wettbewerb bestehen zu können. Dadurch seien sie meist gar nicht mehr in der Lage, ein gesamtes Berufsbild abzudecken, wie es Voraussetzung für die Lehrlingsausbildung ist. Darüber hinaus verlangt Spezialisten-Tätigkeit eine höhere Qualifikation: "Lehrstellen bringen nicht notwendigerweise die Ausbildung, mit der man später im Betrieb weiterbeschäftigt werden kann", meint Biffl.

Keine Motivation?

Das wirkt sich möglicherweise negativ auf die Bereitschaft der Unternehmen aus, Lehrplätze zu schaffen: "Grundsätzlich bildet ein Betrieb nur für den eigenen Bedarf aus", erklärt die Wifo-Expertin. Fehlt dieser, dürfe man sich nicht wundern, dass der Lehrstellenmarkt deutlich weniger von der guten konjunkturellen Lage profitiert als der Arbeitsmarkt an sich.

Ende Juli waren beim Arbeitsmarktservice (AMS) rund 43.000 freie Stellen gemeldet, allerdings nur etwa 4000 freie, sofort verfügbare Lehrstellen (siehe Grafik). Laut AMS-Sprecherin Beate Sprenger sei die Zahl der offenen Stellen im Jahresvergleich um 14,8 Prozent angestiegen, die der Lehrstellen um lediglich 3,2 Prozent. Insgesamt befinden sich - knapp vor Beginn des Ausbildungsjahres - mehr als 10.000 Jugendliche auf der Suche nach einem Lehrplatz.

Besonders auffällig scheint, dass die Zahl der Lehrlinge in den vom Facharbeitermangel besonders gezeichneten Bereichen Industrie und Gewerbe unterdurchschnittlich wächst. Fehlt den Betrieben der Anreiz, weil sie ihre Lehrlinge später ohnehin nicht weiterbeschäftigen werden?

Strukturwandel

Alfred Freundlinger, Lehrlings-Experte der Wirtschaftskammer Österreich, will dem nicht uneingeschränkt zustimmen. Allerdings ortet auch er einen "Strukturwandel" im Wirtschaftssystem: Im produzierenden Bereich - etwa bei Tischlern oder Kleidermachern - gebe es generell weniger Arbeiter als früher. Ein Sinken der Lehrlingszahl sei die logische Folge.

Dass ein Lehrabschluss mitunter nicht ausreichen könnte, um weiterbeschäftigt zu werden, stellt für Freundlinger "rein statistisch kein überragendes Problem" dar. Allerdings gebe es ein breites Spektrum an Lehrberufen mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen. Dass - gerade auch in spezialisierten Bereichen - "lebenslanges Lernen" von großer Bedeutung ist, sei unbestritten. Hier hapert es laut Wifo-Expertin Biffl allerdings gewaltig. Das berufsorientierte Ausbildungssystem müsse, so Biffl, mehr bieten als eine "mittlere Qualifikation". Österreich hätte viel zu spät - nämlich erst 1997 - die Berufsreifeprüfung eingeführt. Fachhochschulen würden nach wie vor zu wenig als "Weiterbildungsschiene" für Lehrlinge angesehen. Das Bildungssystem müsse, so Biffl, "ergänzt und komplettiert" werden, wenn man "die Facharbeiter haben will, die man braucht".

Lehre und Matura

Manchenorts reagiert man bereits: Ab Herbst bieten 32 steirische Industriebetriebe eine Ausbildung zum "Industrietechniker" an, die neben Lehre und Meisterprüfung auch die Matura beinhaltet. Während die Branche darüber jammert, dass sich kaum geeignete Jugendliche für eine Industrielehre interessieren, verzeichnet Böhler Edelstahl - einer der Anbieter der neuen Ausbildung - ein Plus von 25 Prozent bei den Bewerbungen. Laut Industriellenvereinigung sind sämtliche der rund 300 Plätze bereits vergeben.